Infolge der Industrialisierung war das Angebot an billigen Arbeitskräften in den Städten im Laufe der Zeit rückläufig. Deshalb gingen einige Unternehmen dazu über, Filialbetriebe im ländlichen Raum zu eröffnen. Denn dort lag das Lohnniveau deutlich unter dem der Ballungszentren. Vorreiter im Rhein-Neckar-Raum waren dabei die Mannheimer und Heidelberger Tabak- und Zigarrenfabriken, die schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts Zweigwerke in den Landgemeinden der Rheinebene und des Kraichgaus eröffneten. Nachdem man den ländlichen Raum durch zahlreiche Nebenbahnen erschlossen hatte, richteten nach der Reichsgründung auch andere Branchen Filialen in den Städten des badischen Hinterlands ein. Mit dem ehemaligen Nebenwerk der Pforzheimer Schmuckfirma "Kollmar & Jourdan" hat sich in Neckarbischofsheim ein auch baulich ansprechendes Gebäude erhalten.
Schmuckfabrik
Dienstleistungsunternehmen
Die Schmuckfabrik „Kollmar & Jourdan” wurde 1885 in Pforzheim von Emil Kollmar und Wilhelm Jourdan gegründet und wenige Jahre später in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Der Betrieb stellte Herren- und Damenketten, Anhänger, Armbänder und Colliers her. Dabei handelte es sich um sogenannte Doubléware, wie man die Nachahmung teueren Goldschmucks bezeichnete. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigte das Unternehmen in Pforzheim bereits mehr als 500 Mitarbeiter. 60 Prozent davon waren Frauen. Das Mindestalter für weibliche Beschäftigte lag bei 16 Jahren.
1900 richtete man eine erste Filiale in Mühlhausen an der Würm ein. 1908 folgte eine weitere im nordbadischen Boxberg. Schließlich wurde 1912 ein drittes Nebenwerk in Neckarbischofsheim eröffnet. Die Stadt besaß damals rund 1500 Einwohner. Mit der Eröffnung der Krebsbachtalbahn im Jahre 1902 hatte die Kommune einen zentrumsnahen Bahnanschluss erhalten.
In dem neuen Industriebetrieb fanden rund 40 Frauen einen Arbeitsplatz, die unter Anleitung zweier Arbeiter „einfache Artikel” produzierten. Die Ansiedlung der Fabrik bot aber auch Anlass zur Kritik. Im Visitationsprotokoll der örtlichen evangelischen Kirchengemeinde wurde 1914 vermerkt, dass die jungen Damen der Stadt nun zur „Prunksucht” neigten und durch „Unlust zu dem Dienst der Hausarbeit” auffielen. Man konnte es ihnen nicht verdenken, dass sie Schmuck nicht nur herstellen, sondern auch besitzen wollten.
Während des Ersten Weltkriegs stellte die Firma „Kollmar & Jourdan” die Produktion in den Nebenwerken Boxberg und Neckarbischofsheim ein. Infolge der Weltwirtschaftskrise musste das Unternehmen seine Filiale in Neckarbischofsheim zu Beginn der 1930er Jahre erneut schließen. 1937 wurde das Anwesen von der Firma „Müller & Co” übernommen, die dort für mehrere Jahrzehnte Bilderrahmen und Bilderleisten produzierte. Heute wird das Gebäude u. a. von einem IT-Unternehmen genutzt.
Das Fabrikgebäude wurde in den Jahren 1911/12 im Jugendstil errichtet und besteht aus einem zwei- und einem dreistöckigen Gebäudeteil. Herzstück ist ein großer Arbeitssaal, dessen große Fenster eine gute Belichtung der Arbeitsplätze ermöglichte. Im zweiten Obergeschoss des dreistöckigen Teils dürfte sich eine Hausmeisterwohnung befunden haben.
- Kurt Jourdan, Auslese und Anpassung der Pforzheimer Bijoutrie-Arbeiter betrachtet bei der Arbeiterschaft der Firma Kollmar & Jourdan, Uhrkettenfabrik A.-G., Pforzheim, Diss. oec. Freiburg 1919, passim.
- Verein für Heimatpflege (Hrsg.), Villa Biscovesheim - Neckarbischofsheim 988-1988, Neckarbischofsheim 1988, S. 285f.
- 50 Jahre Bilderleisten und Bilderrahmen v. Müller & Co, Neckarbischofsheim, in: Der Kunsthandel 67 (1975), S. 14f.