Das zweigeschossige giebelständige Wohngebäude weist durch seine strenge neoklassizistische Formensprache ein für die Mannheimer Oststadt ungewöhnliches Erscheinungsbild auf. Besonders eigentümlich wirkt das oberste Mezzaningeschoss (Halbgeschoss), dass mit einer Mauerstärke zurückspringt und in dem darunter liegenden Stockwerk zu versinken scheint. Die Gesimse kennzeichnen nicht wie üblich die Geschosshöhen, sondern liegen in Höhe der Fensterbank. Das verstärkt noch die Wirkung der obersten Etage, deren Fenster an der Langseite unmittelbar unter dem Dachvorsprung liegen, als niedrige untergeordnete Nutzfläche.
Die freistehende Villa mit flach geneigtem Satteldach lässt vom öffentlichen Straßenraum den Blick auf drei Fassaden zu. Das Sockelgeschoss ist mit rauh behandelten gelben Sandsteinblöcken verkleidet. Das Erdgeschoss zeigt glatte gelbe Sandsteinquader. Die darüber liegenden Flächen sind verputzt. Die beiden Langseiten werden durch Erker und Balkone gegliedert. Fensterform, Fenstergröße und Fensterrahmung sind in den jeweiligen Stockwerken unterschiedlich. Architrave und Rahmen der Rechteckfenster weisen den spielerischen Umgang des Jugendstils auf. Die drei großen Rundbogenfenster im Giebel erinnern hingegen an klassizistische Vorlagen, wenngleich auch hier die Mauerpfeiler zwischen den Fenstern plastisch verziert sind. Es ist nahezu der komplette historische Fensterbestand mit unterschiedlicher Sprossenteilung baulich überliefert. Das Grundstück betritt man durch ein schönes schmiedeeisernes Tor, die herrschaftliche Villa durch den Eingang am Erker der westlichen Langseite. Von der Diele im Innern zweigen die Räume im Erdgeschoss sowie die Treppe zu den oberen Zimmern ab. Hinter dem Erker liegt etwas versteckt der Dienstboteneingang, der den Zugang in die Kellerräume erlaubt. In den Repräsentationsräumen ist die Wohnkultur der Zeit um 1910 weitgehend erhalten geblieben. Hierzu zählen insbesondere Wandvertäfelungen, Parkettboden, üppige Stuckausstattung und Doppelflügeltüren.
Das Dachgeschoss – ehemals Speicher – erhielt 1996 mit Büroflächen, die durch Dachflächenfenster belichtet werden, eine neue Nutzung.
Wohngebäude
Bürogebäude
Die Villa entstand nach Plänen des renommierten Architekturbüros Billing & Stober. Der Karlsruher Hermann Billing (1867-1946) ist einer der bekanntesten Jugendstil-Architekten in Deutschland. So stammen die Entwürfe der Mannheimer und Baden-Badener Kunsthalle von ihm. In Karlsruhe sind zahlreiche Gebäude aus dem Architekturbüro hervorgegangen. Um 1900 gründete Billing in Mannheim eine Zweigniederlassung mit Leopold Stober als Büroleiter. Dieser erwarb von der Stadtgemeinde, die in jener Zeit die Oststadt mit großzügigen Villengrundstücken entwickeln ließ, das Baugelände in der Viktoriastraße und errichtete hier ein zweieinhalbgeschossiges giebelständiges Einfamilienhaus, das er jedoch nicht selbst bewohnte, sondern an den Finanzvorstand der Zellstofffabrik Otto Clemm (1871-1934) vermietete. Dieser war Sohn des Mitbegründers der BASF sowie der Zellstofffabrik Carl Friedrich Clemm (1836-1899). Letztere hatte sich wegen des vorhandenen großen Wasservorrats im Jahre 1884 im Norden von Mannheim (damals an der Grenze zwischen Käfertal und Sandhofen) am Altrhein angesiedelt und ein Jahr später mit der Herstellung von Sulfitzellulose als Grundstoff für Papier begonnen. Schon zwei Jahre später wurde die Kapazität verdreifacht und um 1900 gehörte die Firma mit großindustrieller Produktion und Expansion ins Ausland zu den wichtigsten Arbeitgebern der Region. 1971 fusionierte die Zellstofffabrik Waldhof mit den Aschaffenburger Zellstoffwerken zu Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg (PWA). 1995 wurden diese mehrheitlich von dem schwedischen Konzern SCA Hygiene Products übernommen. Seit 2017 firmiert das Unternehmen als Essity Germany.
Erst nach Leopold Stobers Tod 1911 wurde die Villa durch dessen Witwe Helene, geb. Riesterer, an die Familie Clemm veräußert. Die 1898 geschlossene Ehe von Otto Clemm und Wilhelmine Helene Bassermann (1877-1930) segneten sechs Kinder: die vier Töchter Annemarie, Lotte, Dorothea und Veronika sowie die beiden Söhne Hans und Hellmuth. Die Töchter heirateten später alle in namhafte Familien ein. Annemarie (1899-1981) war mit Dr. Fritz Engelhorn (geb. 1886), dem Enkel des BASF-Gründers Friedrich Engelhorn verheiratet. Lotte (1900-1991) ehelichte Rudolf Engelhorn, den Bruder des Dr. Fritz Engelhorn. Dorothea (geb. 1904) und Dr. Herbert Böhm waren die Eltern des bekannten Mannheimer Architekten Johannes Böhm (aus dem Büro Lange, Mitzlaff, Böhm). Und Veronika (geb. 1909) ging mit Otto Schroers die eheliche Verbindung ein. Annemarie und Fritz Engelhorn ließen sich mit Blick auf den Unteren Luisenpark von den bekannten Mannheimer Architekten Hermann Esch und Arno Anke 1925 die Villa Bassermannstraße 65 bauen. Der Familienverband weist mit den Mitgliedern Engelhorn, Clemm und Bassermann ein engmaschiges Beziehungsnetz des Mannheimer Großbürgertums auf. Die Bedeutung des Otto Clemm – von der Ausbildung her Bankkaufmann – für Industrie und Wirtschaft wird durch seine zahlreichen Aufsichtsratsposten dokumentiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlagnahmte die amerikanische Besatzungsmacht das gut erhaltene Gebäude, nutzte es für das US-Gericht und gab es erst Mitte der 1950er Jahre wieder frei. Das Haus wurde Anfang der 1960er Jahre von den Erben des Otto Clemm verkauft. Seitdem wurde es als Bürogebäude genutzt, u.a. von der Hoch- und Tiefbaufirma Alfred Kunz sowie ab 1996 von der Inter-Versicherung, die es wiederum 2015 weiter veräußerte.
- Die Friedhöfe in Mannheim, Mannheim 1992, S. 171-172
- Gerhard Kabierske: Der Architekt Hermann Billing (1867-1946). Leben und Werk, Karlsruhe 1996 S. 234
- Mannheim und seine Bauten 1907-2007, Bd. 5 (bearb. von Andreas Schenk), Mannheim 2005, S. 18
- Tobias Möllmer: Die Villa Engelhorn in Mannheim. Kunstwerk, Familienhaus, Baudenkmal, Worms 2012, S. 128ff
- Marchivum ZGS S 1/2902 (Otto Clemm)
ÖPNV Bus Linie 60 (Haltestelle Lanzvilla)
öffentlich nicht zugänglich