Von den prächtigen Warenhauspalästen der Zeit um 1900 ist in Mannheim praktisch nur dieses Gebäude mit der dezenten Jugendstilverzierung im oberen Bereich erhalten. Im Erdgeschoss in diesem Haus hat sich von ca. 1914 bis 1935 die Neckarstadt-Filiale des Warenhauses Kander befunden.
Das Haupthaus von Kander war in T 1,1 angesiedelt. Der spektakuläre Glaspalast der Familie Kander wurde im Jahr 1900 das erstes der großen Jugendstil-Warenhäuser Mannheims gegründet. Es ging über mehrere Stockwerke mit einer Glasfront bis unter das Flachdach. Es revolutionierte den Einzelhandel durch neue Verkaufsprinzipien: eine große Auswahl günstiger Waren aus allen Bereichen, mit festen Preisen bei frei Umschau ohne Kaufzwang. Das Warenhaus Kander richtete sich vor allem an Arbeiterfamilien als Kundschaft. So war es auch das einzige der Warenhäuser, das Filialen in den beiden Arbeitervorstädten Neckarstadt und Schwetzinger-Stadt gründete.
Im Arbeiterviertel der Neckarstadt waren die Verkaufsprinzipien dieselben wie in den vornehmeren Quadraten. Allerdings war der äußere Rahmen weitaus bescheidener. Dennoch fielen die sieben großen Schaufenster „beim Kander“ in der sonstigen Landschaft der Einzelhändler aus dem Rahmen. Die zentrale Lage des Geschäftshauses am „Plätzl“ in der Neckarstadt-West wird auch heute von den Nutzern der Verkaufsräume geschätzt, der Penny-Markt, ein Discounter der REWE-Group.
Handel und Wohnen
Handel und Wohnen
Eine mutige Frau als Gründerin
Sigmund Kander (8.1.1846 bis 17.4.1894) und seine Frau Lina (geb. Stern 1853 – 1918) kommen 1872 aus dem Dorf Hüffenhardt bei Bad-Rappenau nach Mannheim und mieten ein kleines Kurzwaren-Geschäft in den Quadraten. Sie haben vier Kinder. Sigmund Kander stirbt schon mit 48 Jahren. Seine 41jährige Witwe und der 18jährige älteste Sohn Adolph (1876-1942) führen das Geschäft weiter. Und sie wagen den Schritt zur Gründung eines in Mannheim bis dahin beispiellosen Warenhauses. Es wird nach Plänen von Albert Speer Senior innerhalb kürzester Zeit im Jahr 1900 in der Breiten Straße errichtet. Zwei weitere prächtige Warenhäuser, Schmoller und Wronker, lassen sich innerhalb weniger Jahre in Mannheim nieder. Kander hat Arbeiterhaushalte als Zielgruppe. Das Warenhaus ist beliebt. Kander kann nach vier Jahren sogar eine erste Filiale eröffnen.
Wechselnde Standorte der Neckarstadt-Filiale
Die Neckarstadtfiliale befindet sich in den ersten Jahren noch nicht an ihrem endgültigen Platz. Sie zieht 1904 zunächst ins Erdgeschoss der Mittelstraße 46 (ein 5stöckiges Haus), dann 1912 ins Erdgeschoß der Mittelstraße 52, an die Kreuzung zur Alphornstraße gelegen. Zu dieser Zeit ist die Mittelstraße Nr. 56 noch ein unbebauter Lagerplatz.
1914 ist Kander endlich in der Mittelstraße 56 – 58 angekommen. Das Grundstück mit dem neu gebauten schmucken Haus gehörte Georg Reiß, einem alteingesessenen Handelsgärtner aus der Neckarstadt. Kander ist hier zur Miete im großzügigen Erdgeschoss. Leider gibt es keine Bilder von der Innenausstattung.
1915 kann Kander eine weitere Filiale in der Schwetzinger-Vorstadt eröffnen, ebenfalls zu Miete in der Schwetzinger-Straße Nr. 29.
Erster Weltkrieg und Krisenjahre
Im ersten Weltkrieg werden die Waren knapp, die Belieferung unzuverlässig und die Preise immer höher. 1918 stirbt Lina Kander. Sie hatte bis dahin die drei Häuser zusammen mit Ihrem Sohn Adolph als Inhaberin geführt. Es gab einen Direktor bzw. Geschäftsführer für alle drei Geschäfte: Louis Lewiniski. Auch er war, wie die Familie Kander, jüdisch. Die Religionszugehörigkeit hatte in der öffentlichen Wahrnehmung bisher keine Rolle gespielt. In den 1920er Jahre nehmen jedoch antisemitische Töne in der mittelständischen Kritik gegen die Warenhäuser zu. Sie schlägt bald in Hetze um.
1923 erlebt Kander in der Neckarstadt schwer Zeiten. Es ist das Krisenjahr mit extrem hoher Arbeitslosigkeit und unvorstellbarer Inflation. Im Zuge der Hungerrevolten am 15. und 16. Oktober 1923 wird das Warenhaus Kander in der Neckarstadt geplündert. Die sieben großen Schaufenster voller unerreichbarer Schätze hatten zu viel Druck erzeugt.
Die NSDAP hetzte schon sei 1931 in ihrem Parteiblatt, das Hakenkreuzbanner, gegen „jüdischen Warenhäuser“ und übrigens auch gegen die „marxistische Konsumgenossenschaft“. Sie ruft schon Jahre vor der Machtergreifung zu deren Boykott auf.
Warenhaus Kander in der NS-Zeit
Ab Frühjahr 1933 gehen die Nazis militant zur Sache: SA-Männer belästigen Kunden verbal, hindern sie am Betreten des Geschäfts, fotografieren sie, verfolgen sie bis nach Hause. Sie markieren die jüdischen Geschäfte. Den Angehörigen des Öffentlichen Dienstes und ihren Familien wird der Einkauf in „jüdischen Häusern“ verboten.
Die „Arisierung“ – der erzwungene Verkauf weit unter Wert – erfolgt 1935. Der Name Kander ist gelöscht. Die „Anker-Kaufstätte“ ist nun als Mieter im EG der Mittelstraße. Ebenso in T1 und in der Schwetzinger-Straße 29. Sie geht 1936 als Tochterfirma in die Westdeutsche Kaufhof AG über.
Im Krieg wird der Wohnbereich des Hauses schwer von Bomben getroffen, nach dem Krieg wird es nur sehr einfach wieder aufgebaut. In den 1970er Jahre ist im Erdgeschoß eine Filiale der Kaufhalle, seit den 2000er Jahren ein Penny untergebracht.
Die vier Kinder von Lina und Sigmund Kander kamen alle in der NS-Zeit gewaltsam zu Tode. Von einem Enkel ist bekannt, dass er überlebte.
- Kaufmann Adolph und seine Familie kam 1942 im Ghetto von Lodz um.
- Ludwig, Arzt in Karlsruhe, nahm sich 1938 in England aus Verzweiflung das Leben.
- Mathilde kam 1944 in Auschwitz um.
- Julius starb nach der Deportation nach Gurs 1942 in Toulouse.
- Adressbücher Mannheim
- Kilian, Barbara, Die Mannheimer Warenhäuser Kander, Schmoller und Wronker - ein Stück Mannheimer Wirtschafts- und Architekturgeschichte In: Mannheimer Geschichtsblätter. - N.F. 1. 1994. - S. 329 - 368
Mittelstraße 56
Neckarstadt-West
68169 Mannheim
ÖPNV-Haltestelle Neumarkt