Wenn von der „Spinn“ oder der „Knoddl“ die Rede ist, versteht man wohl nur noch in Mannheims nördlichen Stadtteilen - Sandhofen und Luzenberg -, dass damit die ehemalige Jutefabrik gemeint ist. In deren Spinnerei und Weberei mussten immer wieder Fäden „zammegeknoddelt“ (= zusammen geknotet) werden.
Noch schneller als die Erinnerung an sie verschwindet die einst große Fabrikanlage selbst. Die drastischen Kahlschläge erfolgten in den 2000er Jahren, und das, obwohl die Reste unter Denkmalschutz stehen. Gab es noch 1998 den Schornstein, das Kesselhaus und mehrere Werksanlagen, so ist heute nur eine zerfallende Kulisse aus gelben Backsteinen zu sehen. Und auch diese kaum noch, denn immer wieder türmt Essity (früher SCA, PWA und Zellstofffabrik) große Verpackungseinheiten vor den Gebäuden auf. Einzig das ehemalige Direktionsgebäude, das direkt an der Straße steht, ist äußerlich gut erhalten.
1999 hat Andreas Schenk im Mannheimer Architekturführer die Fabrikanlage folgendermaßen beschrieben: „Diese präsentiert sich als burgartige Anlage im mittelalterlichen-neuromanischen Stil. Hauptmerkmal ist der gedrungene Zinnen bekrönte Eckturm. Die Wände sind in gelbem Backstein ausgeführt und mit Backsteinornamenten geschmückt. – Die Fabrikanlage ist Beispiel des Umgangs mit industriellen Bauaufgaben im Historismus: Einerseits wird die Funktion verschleiert; andererseits werden mit Hilfe älterer Baustile und Bautypen die Produktionsstätten aufgewertet sowie die Bedeutung der Industrie und ihrer Unternehmen hervorgehoben. Der hohe Anspruch, den die Jutespinnerei an die Architektur ihre Werksbauten stellt, zeigt sich auch beim Arbeiterinnen-Wohnheim in Sandhofen.“
Wenn man sich die Sozial-Geschichte der Jutefabrik betrachtet, so ist jedoch schnell zu erkennen, dass die Aktiengesellschaft zwar viel Wert auf Fassaden legte, dass sich aber dahinter schlimme Arbeitsbedingungen verbargen.
Verwendung von Jute:
In Mannheim stieg in den 1890er Jahren die Nachfrage nach Säcken aus Jute als Verpackungsmaterial enorm. Nach dem 2. Weltkrieg war Jute allerdings als Verpackungsmaterial zunehmend weniger gefragt. Heute meint man, Jute gäbe es nur noch als Säcke für das Herbstlaub, und im Slogan „Jute statt Plastik“ der ersten Ökobewegung von 1978. Tatsächlich aber wird Jute auch heute in vielen Bereichen und neuen Produkten genutzt wie Heimtextilien, Verbundwerkstoffen, Papier, Technische Textilien, Dämmstoffen, Chemieprodukten und Modeartikeln.
Interessanterweise wurde Jute in ihren asiatischen Ursprungsländern zunächst als Kochgemüse und weniger als Faserpflanze angebaut. Industriell verwertet wurde sie zuerst in Dundee (Schottland) zu Anfang des 19. Jahrhunderts. In Deutschland gab es 1861 die erste Jutespinnerei in der Nähe von Braunschweig (Julius Spiegelberg). Heute ist das Hauptanbaugebiet für Jute nach wie vor Indien. 10 bis 12 Mio. Menschen leben von ihrem Anbau und der Weiterverarbeitung – oft unter erbärmlichen Bedingungen.
Gründung und anhaltender Personalmangel
1897 Gründung der Firma durch Banken und Industrielle als Aktiengesellschaft „Süddeutsche Juteindustrie“ mit einem Startkapital von 4 Mio. Mark. Beteiligungen:
Bankhaus W.H. Ladenburg 1.000.000.-
Schaffhausener Bankverein 744.000.-
Rheinische Creditbank 652.000.-
Comm. Rat Carl Haas 620.000.- (Zellstoff)
Comm. Rat Ferd. Scipio 500.000.- (beteiligt an Bankgründungen, Politiker)
Comm. Rat Carl Karcher 380 000.- (Zuckerfabrik Frankenthal)
Fabr. Dir. Fr. Schott 64.000.-
Fabr. Dir. Carl Scheibler 40.000.-
Man kauft ein 7 ha großes Sandgelände am Altrhein auf der Gemarkung von Sandhofen. In der Nähe hatten sich bereits die Spiegelfabrik (1853) und die Zellstoffwerke (seit 1884) angesiedelt. Bauleitung des Werks: die renommierten Architekten Phillip Jelmoli & Karl Blatt, Mannheim (sie hatten auch schon die Kauffmannmühle und das Gebäude der Süddeutschen Bank, heute Leihamt, gebaut).
1898 Die Produktion beginnt mit 596 Spindeln und 38 dampfgetriebenen Webstühlen. Das Fachpersonal zu beschaffen, war nicht einfach. Die ersten Spinn-, Web- und Appreturmeister werden aus Kassel angeworben. Es ist von vorneherein klar, dass die Belegschaft auch für die einfacheren Arbeiten nicht allein aus der Landbevölkerung der umliegenden Gemeinden gewonnen werden kann. Außerdem geht es der Firma darum, möglichst billige Arbeitskräfte zu besorgen. Die Anwerber werden nach Polen (damals Russland, Österreich, Preußen), Tschechien (Österreich, Böhmen, Mähren), Ungaren und Italien geschickt. Sie werben fast ausschließlich katholische Arbeiterfamilien an und Alleinstehende.
1899 sind 6126 Spindeln und 342 Webstühle geplant, tatsächlich aber läuft nur etwa die Hälfte. Es fehlen noch 400 Arbeiterkräfte zur Kapazitätsauslastung. Es sind 772 Personen beschäftigt, davon 290 aus Deutschland, 182 aus Italien und 293 aus Österreich.
1903 beschreibt ein zeitgenössischer Chronist die Leistungen der Jutefabrik folgendermaßen: „Zur Zeit, als die Verwendung von Jutegeweben als Massenfabrikation von Säcken in Aufnahme kam, sah sich der Mannheimer Handel oft bei Mangel fertiger Ware auf fremde Lieferanten angewiesen. Um diesem Missstande abzuhelfen schritt man im Jahre 1897 zur Erstellung eine Fabrik am Platze selbst. Die von einer Aktiengesellschaft gegründete Süddeutsche Juteindustrie in Mannheim fabrizierte auch Waren aus Flachs und ähnlichen Fasern. Der Betrieb ist mit über 7300 Spindeln und über 360 Webstühlen ausgerüstet. Im Jahre 1900/1901 wurden 5.118.000 kg Garn gesponnen und 7.225.000 m Leinen gewoben. Die Produktion in Säcken belief sich auf 2.950.000 Stück. Anmerkung: die Gesellschaft hat sich neuerdings hervorgethan durch Wohlfahrtseinrichtungen für ihre Arbeiter, 64 Familienhäuser, 24 Familienwohnungen und 24 Schlafsäle.“ (Dr. Ph. Bauer: Aktienunternehmungen in Baden, 1903)
Bau der Werks-Kolonie und des Mädchenwohnheims
Von Anfang an ist eine Werkskolonie geplant, damals in gehöriger Entfernung zum Dorf Sandhofen auf freiem Feld und drastisch weit von der Stadt Mannheim entfernt. 1898 sind die ersten 36 Einheiten der Werkskolonie zu beiden Seiten der Webereistraße in Rohbackstein-Mauerwerk fertiggestellt. 12 weitere Kreuzhäuser werden in der Garnstraße gebaut. 1902: vier weitere Blocks zwischen Juteweg und Webereistraße werden fertig.
1901 sind es über 1000 Beschäftigte, aber es fehlen immer noch 250 Frauen für die Produktion. Man wirbt italienische Arbeiterinnen an.
1903 Erstmals wird eine Dividende von 4% ausgeschüttet. Eine Patentspinnerei für Silvalin-Garn aus Papier wird eingerichtet, aber vier Jahre später wegen mangelhafter Qualität wieder eingestellt.
1904 Beginn des Baus des Mädchenwohnheims (nach Plänen von Architekt Tillessen, Fertigstellung 1907 siehe Beschreibung unter Mädchenwohnheim). Das Haus ist von außen geradezu prächtig. Die über 400 Schlafplätze für die jungen Frauen sind jedoch nur durch Vorhänge voneinander abgetrennt, die dazu noch unten und oben freien Durchblick haben.
Arbeitsbedingungen und die Forderungen des Streiks von 1906
Über die Arbeitsbedingungen im Betrieb sind wenige Fakten überliefert. Es müssen sehr unhygienische Zustände gewesen sein. Auffallend viele Beschäftigte erkrankten an Tuberkulose, so dass es 1905 nötig wird, in der Sandhofener Sonnenstraße ein Krankenhaus mit Isolierstation zu bauen. In Sandhofen ist der höchste Prozentsatz an Tuberkulosekranken in allen Stadtteilen Mannheims.
1906 kommt es zu einem ersten Streik. Die Forderungen der ArbeiterInnen unter der Führung des Deutschen Textilarbeiterverbandes und ihre Organsationsprobleme sind in der sozialdemokratischen „Volksstimme“ im August 1906 dokumentiert:
Zunächst sei die bunte Zusammensetzung der Belegschaft ein Problem gewesen: Es gab sprachliche Verständigungsschwierigkeiten - man hielt u.a. Versammlungen nach Nationalitäten ab, dazu kamen kulturelle Unterschiede, Alter und Familienverhältnisse: von ganz jungen Mädchen bis zu gestandenen Familienvätern. Die Forderungen beziehen sich vor allem auf die Arbeitsbedingungen, aber auch auf den Lohn. So wird ein effektiver 10-Stunden-Tag gefordert, die Mittagspause soll 1 ½ Stunden dauern. Es war davor üblich, dass die ArbeiterInnen in ihrer Mittagspause Nebenarbeiten verrichten mussten.
Es wurde gefordert, dass Arbeitspausen, die durch Reparaturen oder Warten auf Nachschub für Rohmaterial oder Spulen entstanden, zumindest mit einem niedrigen Lohnsatz bezahlt werden – bisher wurde diese Zeit gar nicht bezahlt. Weitere Forderungen bezogen sich auf die Kontrolle der Arbeitsleistung durch die Beschäftigten selbst (das Gewicht der abgelieferten Ware genau feststellen, die Akkordbücher jeden Abend selbst zur Kontrolle bekommen, Anlegen von Wartebüchern). Für die unterschiedlichen Abteilungen – z.B. Vorspinnerei, Patentspinnerei, Potscherei, Feinspinnerei, Klopferei, Schlichterei, Versandmagazin, Näherei) gab es einzeln aufgezählte Forderungen.
Die Forderungen bezüglich der Löhne waren vielfältig: Forderung nach einem Tagesmindestlohn von 1.70 Mark für Arbeit an der Feincarde, bis Tageslohn von 3.40 Mark an der Weiß-Carde. Die geforderten Erhöhungen betrugen wohl zwischen 10 und 15 %. Es gab Stücklohn oder Lohn nach Metern, nach Gewicht oder Sorte, Akkordlohn und Tageslohn. Bestimmte Prämien sollten dagegen wegfallen. Weiter Forderungen bezogen sich auf die Arbeitsbedingungen z.B. in der Schlichterei. Dort solle an die Arbeiterinnen Kaffee ausgegeben werden, „wie die bei den Werkstattarbeitern geschieht. An den Schlichtmaschinen ist eine unerträgliche Hitze, welche viel Durst verursacht. Durch das Wassertrinken werden die Arbeiter ganz abgemagert und schließlich unwohl. In der Schlichterei muss für weit mehr Zufuhr von frischer Luft gesorgt werden durch geeignete Ventilation und Vergrößerung der Fenster.“ – Vermutlich kam das Abmagern weniger vom Wassertrinken. Die Situationsbeschreibung erinnert fatal an die Beschreibung von „Schwindsucht“ also TBC.
„Die Firma brachte es fertig, diese minimalen Forderungen abzulehnen, worauf am Samstag die Arbeit in einzelnen Abteilungen niedergelegt wurde, was die Stilllegung des ganzen Betriebs zur Folge hatte. Die Streikenden haben bereits das Einigungsamt des Gewerbegerichts zur Vermittlung angerufen… Bleibt die Firma hartnäckig, so hat sie selbst den Schaden, denn Arbeitswillige wird sie keine bekommen, weil die traurigen Zustände in dieser Fabrik weit über die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus bekannt sind.“ (Volksstimme im August 1906)
Die Firma reagiert brachial mit Entlassungen. Am 22.8.1906 schreibt der Generalanzeiger: „Süddeutsche Juteindustrie AG Waldhof. Da am Samstag bereits ein Teil der Arbeiter ausständig geworden, sah sich die Direktion veranlasst, heute auch die noch stehen gebliebenen Arbeiter zu entlassen. In Betracht kommen etwa 1000 Arbeiter; es handelt sich in der Hauptsache um Lohnforderungen.“
Wie der Streik ausgegangen ist, haben wir nicht herausgefunden. Am Ende des Jahres wird wieder der Gewinn unter den Aktionären verteilt, und über die Erhöhung der Rohstoffpreise geklagt. Ein Jahr später gab es Lohnkürzungen in der Jutefabrik. In der spärlichen schriftlichen Überlieferung wird der Streik von 1906 als „erster Streik“ bezeichnet. Ein weiterer, lang andauernder Streik ist aus dem Jahr 1921 bekannt.
Anwerbungen laufen jetzt auch aus Österreich-Ungarn, vor allem in der Batschka (das Gebiet war um 1700 vor allem von Donauschwaben kolonisiert worden, die auch um 1900 noch deutschsprachig waren).
1907 Es sind jetzt 1157 Beschäftigte in der Jutefabrik.
Das ländliche Sandhofen entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zum Industriedorf mit 8000 Einwohnern. (Es wurde 1913 von Mannheim eingemeindet.) Sandhofer Bürger beklagen sich über das „Wegmieten“ von Wohnungen durch das Unternehmen. Andere Sandhofer Bürger bauen Neubauten mit Kleinst-Wohnungen für Arbeiterfamilien, alle „Wohnungen“ waren ohne Küche und natürlich auch ohne Bad und mit Plumpsklo außerhalb.
1910 Protest in der Kolonie gegen Milchpreiserhöhung. Als Ersatz wird die kondensierte Milch vom Konsumverein empfohlen.
1913 zwei „Gruppenhäuser“ nach Plänen von Tillessen werden als Meisterwohnhäuser am Sisalweg fertiggestellt. Diese großen Häuser stehen heute noch. Die Jutekolonie hat jetzt ca. 1300 Einwohner. Ein Teil der Häuser sind reine Schlafsäle.
Kriegswirtschaft im 1. Weltkrieg: Hauptsache Dividende
1914 Nach Kriegsbeginn gibt es wegen des Boykotts kaum noch Rohjute aus der englischen Kolonie Indien. Es ist eine Frage der Zeit, dass die Jutespinnerei ihre Produktion einstellen muss. Dennoch sind die Aktionäre zufrieden, denn es gibt 6% Dividende (im Vorjahr waren es 4%). Über die Hauptversammlung berichtet der Generalanzeiger vom 14.12.1915: „Wie der Vorstand hierzu ausführt, sind Verlauf und Erträgnis des 18. Geschäftsjahres bei Berücksichtigung der Tatsache, dass 11 Monaten unter den Einwirkungen des Weltkrieges standen, nicht als ungünstig zu bezeichnen. Die Firma konnte in der ersten Zeit, wenn auch nur zu sehr hohen Preisen noch einige Pöstchen Rohjute erwerben; später erhielt sie etwas beschlagnahmtes Material. Unter Zuhilfenahme von Ersatzfaserstoffen konnte sie ihren Vollbetrieb bis Ende November v. J. aufrechterhalten. Von da ab sank, infolge zeitweiser eintretenden Rohstoffmangels, die Produktion ständig. Auch der Weggang von Aufsichtspersonal und Arbeitern zur Armee bewirkten starke Hemmungen. Als zu Weihnachten etwa 150 geübte italienische Arbeiter in der Hauptsache Spinnerinnen und Weberinnen, in ihre Heimat abwanderten, ging die Warenerzeugung auf etwa ein Drittel der normalen zurück. Mitte Mai kam die Gesellschaft mit ihren sämtlichen Betrieben zum Erliegen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen fanden in anderen hiesigen industriellen Werken und in der Landwirtshaft ohne weiteres Aufnahme; nur ein kleiner Teil habe sich in der Heimat begeben. Die Wiederaufnahme des Betriebes vor Friedensschluss erscheint nach Lage der Dinge ausgeschlossen“ (Generalanzeiger 25.11.1916)
1916 Auch am Ende des Jahres, in dem die "Süddeutsche Juteindustrie“ selbst nichts mehr produzierte, gab es wieder eine Hauptversammlung der Aktionäre und eine Dividende von 4%. Diese kam durch eine Vermietung der Fabrikgebäude und Maschinen an „eine GmbH“ zustande. „Der Mietpreis lasse die Verzinsung des Aktienkapitals bzw. die Auszahlung einer Dividende zu… Den Direktionsmitgliedern wurde die Ermächtigung erteilt, zu demselben Gehaltssatz, den sie bei der Juteindustrie bezogen und gegen Tantiemenbeteiligung in die Direktion der GmbH einzutreten…“ (Generalanzeige 25.11.1916). Erst später im Text wird von „einer Kriegsrohstoffgesellschaft“ als Mieterin gesprochen.
Einstieg des Sackfabrikanten Blumenstein mit Papiergewebe
Auch in den folgenden Berichten des Generalanzeigers wird weiter ohne Nennung des Namens berichtet. Es handelt sich dabei um die Firma der jüdischen Gebrüder Blumenstein, die nicht weit entfernt am Industriehafen eine Sackfabrik betreiben. (siehe Sackfabrik Blumenstein) Sie stellen Säcke aus Ersatzstoffen – aus Papiergewebe - her. Sie hatten bereits im Jahr 1912 zusammen mit dem Papierindustriellen Hartmann aus Berlin die „Textil-Union GmbH“ gegründet, „zum Vertrieb von Garnen aus Textilose, Xylulin, Papier, Baumwolle, Jute etc“. (Die „Zellstoff Waldhof“ stellte nur den Zellstoff her, aber verarbeitet ihn nicht weiter.)
Als im November 1915 mit Beginn des Stellungskrieges das Militär einen Auftrag von 37 Millionen Sandsäcken ausschreibt, kann den allein die „Textil-Union GmbH“ erfüllen. Sie wird deshalb seit Ende 1915 zum fast monopolistischen Hauptlieferanten der Heeresverwaltung für Sandsäcke. Zwar will die Badische Landesregierung die Papiergarnindustrie im Lande fördern, auch um die Arbeitslosigkeit in der Textilindustrie zu dämpfen, doch viele Firmen rechnen 1916 mit einem baldigen Kriegende, und wollten deshalb nicht in die Umstellung ihrer Maschinerie investieren. Blumenstein kaufte viele dieser Firmen auf.
Im Juli 1917 kommt es zu einer Außerordentlichen Hauptversammlung, die in einer Satzungsänderung den Gesellschaftsgegenstand auf die Bearbeitung von Zellulose erweitert. In den Aufsichtsrat wird jetzt auch „J. Blumenstein, Fabrikdirektor Charlottenburg-Mannheim“ gewählt. Es wird erwähnt, dass die Aktienmehrheit des Unternehmens an „eine Berliner Gruppe“ übergegangen sei. Diese Berliner Gruppe wird nicht näher benannt. Es handelt sich dabei um den Blumenstein-Hartmann-Konzern. Blumenstein, der 1917 nach Berlin gezogen ist, gründet dort 1919 und in Amsterdam Banken. „Eine Anfrage aus Aktionärskreisen über die Aussichten wird dahin beantwortet, dass die Betriebe stille liegen und die Fabrik vermietet sei. Die Bankeinnahmen lassen eine Rente von ungefähr 6 Prozent erwarten.“ (Generalanzeiger vom 17.7.1917).
Nach dem Ersten Weltkrieg: steigende Dividenden und ein langer Streik
1918 Im Dezember trifft sich wieder die Generalversammlung und schüttet 4% an Dividende aus. „Auf die Anfrage über die Aussichten des neuen Jahres wurde von Seiten der Direktion erklärt, dass für absehbare Zeit wohl wenig oder gar keine Hoffnung vorhanden sei, dass eine gedeihliche Arbeit ermöglicht werde. Was hereinkomme seien bescheidene Qualitäten von Flachs und die Regierung erachte es für ihre Pflicht, damit im Interesse der Bekleidung der Bevölkerung recht sparsam umzugehen… Man benütze daher das Textilit. In absehbarer Zeit sei man jedoch auf die Nacktpapiergewebe angewiesen.“ (Generalanzeiger vom 16.12.1918)
Im Oktober 1919 endet der Pachtvertrag mit der Blumensteinschen Firma „Süddeutsche Textilwerke GmbH“. Die AG Süddeutsche Juteindustrie klagt über Mangel an Kohlen und geschulten Arbeitskräften, weshalb nur ein Teil der Maschinerie laufen könne. Die Dividende betrug dennoch 4% (Generalanzeiger vom 10.11.1920).
1920 wird von Dampf auf Elektrizität als Antrieb umgestellt.
1921 wird eine Dividende von 12 % ausbezahlt – obwohl in diesem Jahr ein Arbeitskampf von 10 Wochen die Fabrik lahm legte. Der Generalanzeiger vom 17.12.1921 schreibt: "In Folge Ausstandes der Arbeiterschaft lag der gesamte Betrieb vom 30. März bis 8. Juni still“. Über die näheren Umstände ist uns bisher nichts bekannt.
„Vereinigte Jutespinnereien und Webereien“
1922 kommt es zur Verschmelzung der Süddeutschen Juteindustrie mit der Norddeutschen Jutespinnerei und Weberei und weiterer Werke zur „Vereinigten Jutespinnereien und Webereien Aktiengesellschaft“ mit Sitz in Hamburg. Das wird 1923 in das Handelsregister eingetragen. Joseph Blumenstein ist Vorsitzender des Aufsichtsrates der Vereinigten Juteindustrie AG. Der inzwischen international agierende Blumenstein-Konzern umfasst mehr als 50 Unternehmen der Textil-Industrie-Branchen, Jute, Hanf, Leinen, Baumwolle, der Papierindustrie in ganz Deutschland (darunter sieben in Mannheim). Sie sind nur finanztechnisch miteinander verbunden, nicht jedoch durch Lieferverträge. Etwa 30.000 Beschäftigte sind deutschlandweit unter dieser Gruppe vereint. Blumenstein wird als einer der erfolgreichsten Unternehmer in Mannheim betrachtet, allerdings scheint er wenig angesehen gewesen zu sein, denn es gibt kaum Überlieferungen zu seiner Person und Familie. Sein Unternehmen blüht während der Inflationszeit. Nach Stabilisierung der Währung gerät der Konzern in Schwierigkeiten. Schon 1932 ist der Konzern offenbar zerschlagen. 1933 emigriert Joseph Blumenstein mit seiner Familie in die Niederlande. Nach Einmarsch der Deutschen werden auch dort Juden verfolgt und im Lager Westerbork interniert. Am 01. Februar 1944 wird Blumenstein nach Bergen-Belsen ins Konzentrationslager deportiert und am 26. Februar 1945 für tot erklärt.
NS-Zeit:
Im Juli 1933 werden 200 Leute neu eingestellt. Damit hat der Betrieb 850 Beschäftigte. Die Auftragslage ist gut. Aufträge kommen auch aus den USA. Die Zahl der Beschäftigten steigt wieder.
1935 Fritz Salm beschreibt die schweren Arbeitsbedingungen in der Jutefabrik („Im Schatten des Henkers – vom Arbeiterwiderstand in Mannheim “, 1973).
„Über 1500 Arbeiter, hauptsächlich Arbeiterinnen sind im Betrieb beschäftigt. Die Zustände sind furchtbar. Schon vor Jahren ging der Betrieb dazu über, jeder Weberin zwei Webstühle statt wie früher einen zu übergeben. Das bedeutete ein ungeheures Hetztempo für jede Arbeiterin. Die Nazis haben verspochen, diesen Zustand abzuschaffen. Statt einer Verbesserung ist aber eine Verschlechterung eingetreten, denn seit über einem Jahr wird nur das allerschlechteste Rohmaterial verwendet, wodurch die Arbeit ungeheuer erschwert wird. Während noch wie vor Jahren eine Arbeiterin im Akkord 26 bis 30 Mark verdienen konnte, ist es heute so, dass sie im günstigsten Fall 22-23 Mark verdient. In der Praxis kommen … sie jedoch nicht einmal auf den Taglohn, welcher wöchentlich rund 14 Mark einbringt. Die jüngeren Arbeiterinnen verdienen 6-9 Mark die Woche. Wie ein Mensch von solchen Hungerlöhnen leben soll, ist unerklärlich.“ (S.112f) Es wird vorgerechnet, dass einem Mädchen kein Geld mehr übrig bleibt, wenn es 1,20 Mark wöchentlich für den Verschlag im Wohnheim zahlt, für jedes Essen 50 Pfennig und jede Tasse Kaffee 10 Pfennig.
Zwischen 1933 und 1945 herrscht offenbar ein reges NS-Partei-Leben im Werk. Überliefert sind etliche Wehrsportaktivitäten: 1936 ein SA-Sportabzeichen-Lehrgang mit 116 TeilnehmerInnen. Ein Militärkonzert des Infanterieregiments 110 fand im Webereisaal statt: „Die innige Verbundenheit des Deutschen Arbeiter mit der deutschen Wehrmacht konnte wohl kaum schöner zum Ausdruck kommen“ (Sandhofer Anzeiger zitiert nach 100 Jahre Jutekolonie Sandhofen, 1998) Schon 1938 üben Werksfeuerwehr und Sanitätsdienst einen simulierten Fliegerangriff. (Die Fabrik bleibt bis kurz vor Kriegsende weitgehend unbeschädigt.)
1942 werden Zwangsarbeiterinnen im Mädchenwohnheim untergebracht. In der Kolonie kommt es zur Verhaftung von Richard Jatzek. Er wird als Mitglied der Widerstandsgruppe um Georg Lechleiter wegen Verteilung des „Vorboten“ vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 24. Februar 1943 mit 15 weiteren Genossen in Stuttgart hingerichtet.
Wie nach dem Krieg bekannt wird, veranlasste der Betriebsdirektor Heinz Edgar Gulden 1942 etliche „Bestrafungen“ von Beschäftigten, darunter auch Jugendliche durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo), er bat explizit darum, die Personen in ein Arbeitslager und sogar ins Konzentrationslager zu bringen. Gulden wohnte noch 1947 in der Direktionswohnung beim Werk. (Badisches Volksecho 11.9.1947)
1945 Einige Kriegsschäden entstehen durch US-Phosphorgranaten im Werk und im geringen Ausmaß auch am Mädchenwohnheim.
Niedergang der Juteindustrie nach 1945
1946 Deutsche Flüchtlinge, vor allem Donauschwaben aus der Batschka, werden im Werk eingesetzt.
1948 gibt es nur noch 500 Beschäftigte, die Nachfrage nach Jute geht immer weiter zurück.
1952 bricht ein Großfeuer im Werk aus und vernichtet 4.000 Ballen Rohjute. Ab 1952 gibt es keine Dividende mehr.
1955 noch 600 Beschäftigte.
1958 Neuer Großaktionär mit 70% sind nun die englischen Ralli-Brothers. Nachdem bereits das Werk der Vereinigten Jute-Industrie in Hamburg Billstedt stillgelegt wurde, wird beschlossen, dass auch Mannheim mit seinen 190 Beschäftigten geschlossen wird. Teile des Werks werden abgerissen.
Nachnutzung des Werksgeländes nach der Schließung
1958 Übernahme des Restgeländes durch die Spedition Silvamar, eine Tochterfirma der benachbarten Zellstoffwerke.
1962 Auf dem ehemaligen Werksgelände ist das Möbelauslieferungslager Klaus Melchien untergebracht, weiterhin ein Kohlelager auf dem Platz zwischen Meisterhaus und Verwaltungstrakt.
1970 Großbrand bei Spedition Silvamar.
1989 Auf dem ehemaligen Werksgelände befinden sich nun ein Lager von IHR Möbelmarkt und ein Fahrzeug- und Bootsvertrieb.
1990 Nutzung durch die damalige PWA (Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg) heute Essitiy , Abriss weiterer Werksanlagen für neue Produktionsstätten der Hygienepapierfabrik.
2015 weiterer Abriss auf dem Werksgelände zugunsten eines Hochregallagers von Essity.
- Alfred Heierling: Die Geschichte von Sandhofen und Scharhof. Mannheim 1986
- Alfred Heierling: 100 Jahre Jutekolonie Mannheim-Sandhofen. Mannheim 2000
- Zeitungsausschnitte im Stadtarchiv Mannheim
- Peter Koppenhöfer: Mannheim zu Fuß 1991
- Ferdinand Werner: Arbeitersiedlungen und Arbeiterhäuser im Rhein-Neckar-Raum 2012
- Mädchenwohnheim der Jutefabrik in Sandhofen
- Jutesiedlung, Werkskolonie der Jutefabrik
- Sackfabrik Blumenstein
Die Reste der Jutefabrik sind im Prinzip von der Straße aus gut einsehbar. Der Weg ist barrierefrei.
RNV-Haltestelle Bürstadter Straße