Die „IG-Farben-Siedlung“ in Rheinau-Süd
Ganz im Süden Mannheims liegt der Stadtteil Rheinau. In dessen Süden erstreckt sich ein ruhiges Wohngebiet, mit niedrigen Häusern und großzügigen Gärten abgeschirmt durch die Schallschutzmauer vom stark befahrenen Edinger Riedweg, auf der der LKW-Verkehr zum Rheinau-Hafen rauscht. Bei genauerer Betrachtung erkennt man in der Siedlung bei jedem Haus den gleichartigen „Kern“: ein kleines Doppelhaus mit hohem Satteldach. Es handelt sich hier um eine Siedlung aus dem Jahr 1933, die die BASF (damals Teil der „IG-Farben“) von den Anwohnern selbst errichten ließ, allesamt Arbeiter bei der BASF/IG-Farben. Über die Jahrzehnte hat sich die Siedlung stark verändert: An- und Umbauten haben die ursprünglichen Häuschen zum Teil regelrecht überbaut, in den weitläufigen Gärten stehen raumgreifende Gartenhäuser und teilweise sogar Bungalows aus den 1960er Jahren oder später. Die Bewohner sind keineswegs mehr nur Beschäftigte der BASF.
Das Zentrum der Siedlung ist das Siedlerheim der BASF-Siedlergemeinschaft e.V. Mannheim-Rheinau-Süd, in der Gaststätte „Seeblick“ in der Lüderitzstr. 42, ein Gasthaus mit gutem preiswertem Essen, aber ohne Seeblick.
Das Interessante an dieser Siedlung ist ihre Geschichte. Hier wurden nicht nur die Häuser in Eigenleistung der späteren Bewohner gebaut, erstmals wurden hier auch Leichtbeton-Steine verwendet die die BASF entwickelt hatte, und das ganze musste in die nationalsozialistische Ideologie passen. Die Geschichte der Siedlung zeigt sich auch in einem Teil der Straßen, die 1935 nach führenden deutschen Kolonialpolitikern benannt wurden: Wissmann-, Nachtigal-, Leutwein-, Lüderitz- und Karl-Peters-Straße. Die Debatte um die Umbenennung der Kolonialen Straßen brandet immer wieder auf.
Wohnsiedlung
Wohnsiedlung
Siedlungsbau Ende der 1920er Jahre
Um die Wohnungsnot in Mannheim zu lindern wurde bereits vor dem ersten Weltkrieg der stadtnahe Siedlungsbau gefördert und ab 1927 von der Gemeinnützige Baugesellschaft GBG als sozialer Wohnungsbau organisiert. Die GBG wurde 1926 von der Stadt Mannheim gemeinsam mit der städtischen Sparkasse gegründet.
Auch die BASF/IG-Farben hatte mehrere große Siedlungsprojekte in über 20 Orten in und um Ludwigshafen, darunter die Oggersheimer Siedlung „Im Melm“, deren Häuser mit Rheinau-Süd vom Grundriss her identisch waren.
Rheinau-Süd ist das einzige rechtsrheinische Projekt. Die BASF/IG-Farben kaufte dafür von der Gemeinde Brühl ein 167.000 Quadratmeter großes Gelände. Die Eingemeindung nach Mannheim erfolgte erst 1944. Ausgeführt wurde das Projekt von der „Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft der IG Farbenindustrie Ludwigshafen“, die es im Mai 1933 ausschrieb und im Herbst 1933 mit dem Bau von insgesamt 154 Siedlerstellen in 77 Doppelhäusern startete.
Grundsätze der NS-Arbeitersiedlung
„Diese Stammarbeitersiedlungen zeichneten sich gegenüber den Siedlungen in städtischer Trägerschaft nicht nur durch bessere Erschließung beispielsweise durch elektrisches Licht aus. Vor allem wurden sie als „nationalsozialistische Arbeitersiedlungen“ von Beginn an systematisch im Sinne der Parteipropaganda instrumentalisiert und überhöht. Über der Baustelle in Rheinau wehte „das Hakenkreuz als Lichtzeichen des Aufbaues“; die Auswahl der Siedler erfolgte nach den Kriterien der nationalsozialistischen Rassenideologie. „Die Siedlerfamilie muss erbgesund sein“, war 1933 in den „Grundsätzen der NSArbeitersiedlung“ zu lesen, welche die Werkzeitung der IG Farben veröffentlichte.
Und der Leitfaden der „Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft der IG Farben Ludwigshafen“ listete als Auswahlkriterien für die zukünftigen Siedler neben politischer Zuverlässigkeit und „völkischer Aufbaubereitschaft“ auch eine entsprechende „eugenische[…] Bewertung“ sowie die Erfüllung der „rassemäßigen Voraussetzungen“. Das Ziel der Siedlungsprojekte der IG Farben war es, ganz im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie den Chemiearbeiter an „Scholle“ und Betrieb zu binden, um dadurch deren Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu erhöhen.“ Zitat aus: Gutachten von Dr. Bernhard Gißibl und Prof. Dr. Johannes Paulmann vom März 2020 zu den Namensgebern der Gustav-Nachtigal-Straße, Leutweinstraße, Lüderitzstraße und des Sven-Hedin-Weg in Mannheim-Rheinau.
Bau mit Arbeitslosenunterstützung
Ausgewählte Beschäftigte der BASF/IG-Farben sollten auf der Grundlage des Reichsheimstättengesetzes von 1920 die Gelegenheit erhalten, mit ihren Familien eigene Häuser zu bauen.
„Für dieses Projekt wählte sie Die BASF/IG-Farben Ludwigshafen 154 langjährige, zuverlässige Facharbeiter aus verschiedenen Berufen aus. Die Mitarbeiter wurden zum Zwecke des Häuserbaus für 14 Monate beurlaubt und diese bestritten ihren Lebensunterhalt in dieser Zeit von staatlicher Arbeitslosenunterstützung. Während der Stammarbeiter nicht im Betrieb war, wurde für ihn ein Arbeitsloser auf Zeit eingestellt. Die Vorarbeiten wurden vom Reichsarbeitsdienst übernommen. Beim Bau der IG Siedlung wirkten also Industrie und Staat zusammen. Sicherlich war zur damaligen Zeit nicht die attraktive Wohnstätte für die Arbeiter und ihre Familie das Hauptziel. Durch diese Vergünstigungen wollte man eine feste Bindung an das Unternehmen herstellen. Schließlich war die chemische Industrie ja eine der ,Schlüssel Industrien´.
„Tag für Tag kamen die Siedler mit Fahrrädern auf die Baustelle, oft ein langer Weg, denn die meisten wohnten auf der anderen Rheinseite, oder anderen entlegenen Vororten von Mannheim. Während der Bauarbeiten wurden die Arbeiter mittags mit Speisen verpflegt, die in der Kantine der BASF zubereitet wurden.“ Zitat aus der Webseite der BASF-Siedlergemeinschaft e.V. (www.verband-wohneigentum.de/sg-basf-mannheim-rheinau)
Neuartige Steine: „Schaumbeton Iporit“
Die Häuser wurden aus Kunststeinen hergestellt, die mit Hilfe einer eigens installierten Maschine vor Ort selbst geformt wurden. Die sogenannten Iporitsteine (andere Markennamen sind z.B. Ytong), die hier erstmals überhaupt in größerem Umfang zur Anwendung kamen, wurden von der IG-Farben selbst entwickelt. Dies neuartigen und billigeren Baumaterialien nannte man auch „Schaumbeton“, „Porenbeton“ oder „Leichtbeton“. Es ging nun darum, sie auf ihre Eigenschaften in der Praxis zu testen, auch hinsichtlich der Verarbeitung durch Laien.
Die Ergebnisse werden in Bau-Fachpublikationen gelobt: „Für den Einfamilienhausbau ist er (der Leichtbeton) also bei tragenden Wänden (Ausnahme: Kellerbau) besser als Normalbeton, weil er durch sein geringes Gewicht nicht nur sehr leicht zu verarbeiten ist (sogar für „Nicht-Experten“), sondern auch eine deutlich bessere Wärmedämmung zeigt.“ (Erich Mindner, Wände und Decken 1936)
Verlosung der fertigen Häuser
Zitat aus der Webseite der BASF-Siedlergemeinschaft: „Alle 154 Gebäude wurden identisch gebaut und erst nach Ihrer Fertigstellung unter den 154 Familien verlost. Damit wurde sichergestellt, dass jedes Haus mit der gleichen Sorgfalt errichtet wurde. Jedes Haus verfügte über Küche und ein Zimmer im Erdgeschoss, zwei weitere Zimmer im ersten Obergeschoss sowie einen Speicher und einen Keller. An das Wohngebäude angeschlossen war ein Verschlag für Kleinviehhaltung und eine fast 1000 Quadratmetergroße Gartenfläche. In den Gärten wurde Obst und Gemüse angepflanzt, sodass die ursprünglichen Sandäcker in blühende Gärten verwandelt wurden. Bis 1934 waren alle 154 Häuser bezogen. Insgesamt umfasste die Siedlung nach Fertigstellung 762 Einwohner.“ Die Straßen wurden 1934/5 nach führenden deutschen Kolonialpolitikern benannt.
Bewährung der Siedler*innen
Zitat aus der Webseite der BASF-Siedlergemeinschaft e.V.: „Nach der Übergabe mussten sich die Familien 5 Jahre bewähren (Pflege von Haus und Garten, Anbau von Gemüse und Kleintierhaltung war Bedingung). Besonders der Anbau von Obst und Gemüse war schwer, da der Boden aus reinem Kies bestand und daher erst Mutterboden aufgebracht werden musste. Erst nach Ablauf der 5 Jahre und Erfüllung der Auflagen erfolgte die Überschreibung des Hauses.“
Weitere Entwicklung der Siedlung
Die BASF-Siedlergemeinschaft e.V. stellt sich vor als „eine intakte Gemeinschaft von über 300 Siedlern, Familenheimbesitzern und Förderern des Siedlungsgedankens mit Ihren Familien.“ Sie konnte einige bauliche Neuerungen erreichen: die Verlegung der Stromkabel unter die Erde und die Kanalisation. „Die Pfuhlgruben und die altertümlichen Dachständer gehörten der Vergangenheit an. Gleichzeitig wurde in den 1950er Jahren mit der Stadt vereinbart, dass eine Teilung der Grundstücke erfolgen kann. Viele Siedler machten davon Gebrauch, sodass im hinteren Teil der Grundstücke ein zweites Haus entstand.“ Zitat aus der Webseite der BASF-Siedlergemeinschaft e.V.
Nach 1945 wurden in ganz Mannheim viele NS-lastige Straßennamen ersetzt. Nicht jedoch in Rheinau-Süd. Erst 1985 begann man über eine Umbenennung der Karl-Petersstraße nachzudenken, die dann 2011 in „Wilhelm-Peters-Straße“ nach einem Naturforscher benannt wurde. Einen neuen Anlauf nimmt die Stadtgesellschaft nun im Jahr 2020, um endlich auch die anderen Kolonialisten aus dem Stadtplan zu tilgen.
- Webseite der BASF-Siedlergemeinschaft e.V. (www.verband-wohneigentum.de/sg-basf-mannheim-rheinau)
- Gutachten von Dr. Bernhard Gißibl und Prof. Dr. Johannes Paulmann vom März 2020 zu den Namensgebern der Gustav-Nachtigal-Straße, Leutweinstraße, Lüderitzstraße und des Sven-Hedin-Weg in Mannheim-Rheinau
- Rheinau, Illustrierte Geschichte eines Mannheimer Vororts, Bearbeitet von Hans-Peter Rings, 1982