Ehem. Hadernfabrik und ein Kriegsdenkmal im Industriehafen MA
Das Backsteinhaus schmiegt sich in das spitze Dreieck, das durch den Straßenverlauf und die Industriebahn auf der Rückseite entsteht. Von den Gleisen aus könnten dort Waggons be- und entladen werden. Über dem Sandsteinsockel ist das Haus teilweise mit Sichtmauerwerk verziert. Zur Straßenseite wirkt das Haus verlassen, als wäre seit Jahren dort niemand mehr hineingegangen. Dabei ist der Vorgarten liebevoll mit Mauern und Metallzäunen umfriedet. Und genau diese Eingangssituation ist auf einem hundert Jahre alten Foto zu erkennen. Das Foto wurde anlässlich der Enthüllung des Gedenksteins gemacht, der unmittelbar vor dem Haus steht.
Das Denkmal
Der Obelisk mit den Kanonenkugeln markiert die Stelle des Rheinübergangs des russischen Korps von Sacken und der Armee Blüchers am 1.1.1814. Hier trafen also im sog. Befreiungs-Krieg preußische und russische Truppen auf die napoleonischen Truppen. Auch die Benennung der Ufer des Hafens (Russen-, Preußen- und Franzosenkai) stammen aus dieser Tradition. Gesetzt wurde der Gedenkstein durch den Militärverein Mannheim in Anwesenheit des Großherzogs im Januar 1914. Acht Monate später wurde der Erste Weltkrieg vom Zaun gebrochen.
Unternehmen zur Aufbereitung von Textilabfällen für die Papierindustrie
Lager und zeitweise Wohnhaus der Zahnradpumpenfabrik Neidig, Mannheim
Die „Lumpezwick“ von Reis
Das Foto von 1914 zeigt, dass das Gebäude ursprünglich viel größer und repräsentativer war, zwei Stockwerke hoch, mit Balkon zur Straßenecke. Auf der hohen Schmuckfassade steht der Firmennamen „L. H. Reis“. Es handelt sich um ein Recycling-Unternehmen zur Gewinnung von Rohstoffen aus Textilabfällen für die Papierindustrie – so würde man es heute bezeichnen. Damals hießen diese Unternehmen im Mannheimer Volksmund „Lumpezwick“. Im Adressbuch war das Unternehmen von Lazarus Hirsch Reis 1890 unter dem Stichwort „Hadernhandlung“ zu finden, später unter „Baumwollabfälle“.
Hier wurden Lumpen sortiert, in Maschinen gewaschen, chemisch gebleicht und mit einem Reißwolf in kleinste Stücke zerrissen. Der Stadtplan von 1913 zeigt, dass es sich dabei um eine größere Anlage gehandelt haben muss. Von dem Unternehmen ist heute nichts mehr erhalten, denn schon 1928 wurde es von der benachbarten Zahnradpumpenfabrik aufgekauft. Das Gebäude wurde im 2. Weltkrieg stark zerstört. Die Fenster wurden kürzlich etwas lieblos aber einbruchsicher erneuert, die Front als Werbefläche für das Logo der Zahnradpumpenfabrik benutzt.
Anfänge als Hadernhandlung in den Quadraten
Lazarus Hirsch Reis ist mit seiner Frau Julie, geb. Ottenheimer und seinem siebenjährigen Sohn Isidor 1867 vom ländlichen Wollenberg (Amt Sinsheim) nach Mannheim gezogen. Die jüdische Familie lässt sich in U 4,2 nieder und bekommt einen Heimatschein für Mannheim. Ab 1890 ist an dieser Wohnadresse auch eine „Hadernhandlung L.H. Reis“ gemeldet (Hadern= Lumpen, siehe Einschub). In dieses Geschäft steigen um 1900 Isidor Reis und Adolf Mayer ein. Der Standort bleibt bis 1908 in den Quadraten, in U 4, 7 und 23, wo Isidor Reis auch wohnt.
„Hadern“ ist eine heute kaum noch gebräuchliche Bezeichnung für Lumpen oder Fetzen, meist zerschlissene Kleidungsstücke. Seit dem Mittelalter sammelten „Lumpensammler“ diese Hadern aus Leinen, Hanf oder Baumwolle und verkauften sie an die Papierhersteller, denn bis ca. 1850 waren in Europa dies die einzigen verfügbaren Rohstoffe für die Papiermühlen, die „Hadernpapier“ herstellten. Erst durch die Einführung von chemischer Bleiche der Hadern konnte auch Feinpapier daraus hergestellt werden.
Lumpensammler, oft aus dem „fahrenden Volk“ zogen bis in die 1960er Jahre mit Karren oder Pritschenwagen durch die Straßen laut rufend: „Lumpen - Alteisen - Papier!“ Die Schimpfworte „Lump“ oder „Haderlump“ (in Süddeutschland und Österreich) beziehen sich auf diese gesellschaftlich wenig anerkannten Beruf.
Die Fabrik am Hafen
1908 können sich Isidor Reis und Adolf Mayer eine eigene Fabrik am Industriehafen aufbauen. Sie kaufen von der Stadt das Gelände der Friesenheimer Straße Nr. 3 und errichteten dort ihre schmucke Fabrik. Sie ist erst das dritte Gebäude auf dieser Seite der Straße. Es existieren sonst nur die Seilerei Gebrüder Fingado (Friesenheimer Straße 1) und ganz am Ende der Straße (Nr. 25) die Sackfabrik der Gebrüder Blumenstein.
Während des Ersten Weltkrieges haben Recyclingfirmen durchaus gute Verdienstmöglichkeiten, denn es kommt wegen des Boykotts von importierten Rohstoffen wie z.B. Zellstoff, darauf an jede Abfall-Faser auszunutzen.
1920 wohnt Isidor Reis in der Hebelstraße 21, also in einer deutlich besseren Wohngegend als die U-Quadrate. 1924, am 11. 4. stirbt Isidor Reis mit 64 Jahren offenbar kinderlos. Adolf Mayer führt vermutlich das Geschäft noch einige Jahre weiter.
Umnutzung zu Maschinenfabrik und Wohnhaus
Um 1928 kauft die benachbarte Firma Neidig (Friesenheimer Straße 5), ein großer Metallbetrieb zur Herstellung von Zahnradpumpen, die Friesenheimer Straße 3 mitsamt ihren Gebäuden. Einen Teil der Gebäude nutzt er als Wohnhaus für die große Fabrikantenfamilie. Das Familienunternehmen Neidig expandiert in dieser Zeit enorm. Im Zweiten Weltkrieg werden jedoch 85 % der Gebäude zerstört, darunter auch große Teile der ehemaligen Baumwollabfallfabrik. Seit 1979 firmiert Neidig unter „ZPM“ Zahnradpumpenfabrik Mannheim. Das alte Reis-Gelände dient ihr nur als Lager.
Textilverwertung bis heute einträglich
Im Industriehafen gab es um 1920 noch weitere Textilverwerter: Dreyfuß und Co in der Industriestraße 45, R. Gundelfinger und Co in der Friesenheimer Straße 17 sowie Leopold Maier und Co ebenfalls in der Friesenheimer Straße 17. Ein weiteres sehr großes Unternehmen, sogar eine Aktiengesellschaft, hatte ihren Standort von1904 bis 1978 in Friedrichsfeld, die „Fa. Reis & Co AG“ – nach der Arisierung „Kurpfälzer Textilwerk AG“. Diese Firma hatte mit der Firma von L.H. Reis nichts zu tun. Gemeinsam ist, dass beide Unternehmer jüdischen Glaubens waren. Viele der Betriebe der Textilverwertung hatten bis zur NS-Zeit jüdische Besitzer.
Hadernhandlungen und die Textilverwertungsindustrie konnten damals und können auch heute durchaus einen beträchtlichen Verdienst aus dem Recycling-Geschäft ziehen. Vor 100 Jahren ging alles an die Papierindustrie, heute bedient die Textilverwertung die Papierindustrie nur mit etwa 5 % ihrer Alttextilien und 35 % gehen als Rohstoff in die Putzlappenindustrie. Etwa 40 % der eingesammelten Textilien gehen heute als tragbare Kleidung vor allem nach Osteuropa und Afrika. Auch diese Branche ist globalisiert und das hat dramatische Auswirkungen auf die einheimische Ökonomie der belieferten Länder.
- Jakob Toury, Jüdische Textilunternehmen in Baden-Württemberg 1683-1938, S. 138
- „Textilrecycling“ auf der Webseite des Bundesverbandes Sekundärrohstoffe und Entsorgung
- Wikipedia
- Adressbücher der Stadt Mannheim
- Führer durch die Industrie- und Hafenanlagen Mannheims, 1909