ehem. Zurichterei Cahn & Rheinauer

Es erfordert einiges an Fantasie, sich die orange und blau gestrichenen Gebäude in ihrer Originalfassung mit Backsteinfassaden vorzustellen. Vielleicht war sogar Fachwerk sichtbar, das Walmdach und die herausragenden Balken am Vorderhaus legen das nahe. Jetzt wird ein großer Teil der Fassade verdeckt von einer aufgeständerten Terrasse, einer Wendeltreppe ins Dachgeschoss und von einer weiteren Treppe in den Seitenbau. Die Form der Fenster des zweistöckigen Flachbaus zeigt jedoch, dass es sich hier um einen historischen Bau handelt.

Der Bau ist zwar schmal, zieht sich aber ca. 100 Meter bis zum Hafen hin. Der aktuelle Besitzer Promusik bietet insgesamt eine Fläche von 2.800 qm als Proberäume für, Bands und Musiker an, aufgeteilt in über 130 Proberäume in verschiedenen Raumgrößen „in bester Qualität“. Er hat auf der gesamten Flachdachfläche Photovoltaik-Anlagen aufstellen lassen – einer der wenigen Betriebe am Industriehafen.

Nutzung (ursprünglich)

Zurichterei von Naturfasern

Nutzung (derzeit)

Proberäume für Musiker*innen

Geschichte

Die Firma von Cahn und Rheinauer wird bereits 1890 gegründet und nennt sich zuerst „Fiber- und Piassawa-Zurichterei“ (siehe unten). In der Industriestraße 41 ist sie seit 1910 ansässig unter der Bezeichnung „Zurichterei und Großhandlung von Rohmaterialien für die Bürstenfabrikation“. Sie liefert die sortierten und auf unterschiedliche Längen geschnittenen Naturfasern an Blindenfürsorgeanstalten im ganzen deutschen Reich, die daraus Bürsten herstellen. Wie viele Beschäftigte der Betrieb hatte ist unbekannt. Vermutlich waren viele Frauen angestellt.

Auf das Nachbargrundstück (Nr. 41a) zieht 1911 Leopold Weill mit seiner Röhrengroßhandlung. Er baut sein schmuckes Verwaltungsgebäude und die Hallen Wand an Wand mit der Zurichterei.

Der Zwangsverkauf in der NS-Zeit

Alle Teilhaber der Firma Cahn und Rheinauer (wie auch Leopold Weill) sind jüdischen Glaubens und stehen deshalb auf der Liste der Nazis für einen Zwangsverkauf. 1938 greift die Firma Krumbholz & Co zu, eine Faserstoff-Zurichterei aus Wunsiedel. Laut Vertrag soll sie 82.000 RM zahlen. Zwei Wochen nach Abschluss des Kaufvertrags tritt der Steuerberatern Wilhelm Kiesel auf den Plan, der schon bei anderen Arisierungsvorgängen den Kaufpreis nachträglich drückte. So auch hier: die Dächer seien mangelhaft, ein Bau-Gutachten müsse her. Tatsächlich wurde der Kaufvertrag auf knapp 65.000 RM gesenkt.

Als Gesellschafter waren zu diesem Zeitpunkt beteiligt: Carl Cahn der bereits in der Schweiz emigriert war, die Witwe von Albert Cahn und - mit der größten Beteiligung von 60.000 RM - Dr. Fritz Cahn-Garnier. Der Firmenmitbegründer Lehmann Rheinauer war bereits 1927 verstorben.
Die Zurichterei nach 1945

Die Faserstoff-Zurichterei von Krumbholz & Co hält sich nicht lange. Sie wird schon in den 1950ern von einer „Industrieanlagen und Handelsgesellschaft GmbH“ gekauft. Später werden hier von Schuster und Co Spezialrohrteile gehandelt. 1974 kommt die „Peter Rixius GmbH“ mit dem „Salzkontor Kurpfalz“ auf den Plan, die auch das benachbarte Gebäude Nr. 41a nutzt. Der in der Region größte Salzhändler schlägt jährlich ca. 15.000 Tonnen Salz um, vom Streusalz für Straßen bis zum Salz für Brezeln. Das Salzkontor zieht 2011 ins Kraichgau. Der Musikalienhandel „ProMusik“, zunächst auch mit einem Verkauf von Instrumenten, später nur noch mit dem Vermieten von Proberäumen.

Biografie von Dr. Fritz Cahn-Garnier

Viele kennen den Namen Cahn-Garnier als einen Mannheimer Oberbürgermeister in der Nachkriegszeit oder sie kennen zumindest den Namen für das Neckarufer, an dem die MS Kurpfalz liegt. Fritz Cahn, geb. 1889, ist der einzige Sohn eines Mannheimer Arztes, studiert Jura, ist jüdisch, ist im 1. Weltkrieg an der Front. Seine Frau Wera Garnier ist evangelisch. Er nimmt den Doppelnamen Cahn-Garnier an. 1922 wird er Stadtsyndikus und Beigeordneter, er ist parteilos und nebenberuflich Dozent an der Sozialen Frauenschule.

Dr. Fritz Cahn-Garnier als Oberbürgermeister (Foto Marchivum)

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird er am 15. März 1933 von einem SA-Schlägertrupp in der Frauenschule aufgesucht und in „Schutzhaft“ genommen. Wenig später wird er aus der Stadtverwaltung entlassen. Er taucht mehrfach unter. In der Pogromnacht 1938 wollen ihn SA-Leute verhaften, seine Frau wird als Geisel inhaftiert. Er stellt sich der Polizei. Er wird ins Konzentrationslager Dachau verbracht. Unter strengen Schweigeauflagen kann er das KZ nach Wochen wieder verlassen, aber er wird mit absolutem Berufsverbot belegt.

1938 wird der Betrieb zwangsverkauft. Er wird als Abwickler der Firma Cahn und Rheinauer eingesetzt und muss bis 1944 monatlich den NS-Behörden Bericht über die Vermögensverhältnisse erstatten, die sich aus dem Verkauf der Firma an Krumbholz ergeben haben.

Am 31. Juli 1939 verlässt der 14-jährige Sohn Werner mit einem Kindertransport Mannheim und geht über die Niederlande nach Belfast. Der Deportation der Badischen Juden nach Gurs im Oktober 1940 entgeht Fritz Cahn-Garnier wegen seiner „privilegierten Misch-Ehe“. Kurz vor Kriegsende soll er ins KZ Theresienstadt verschleppt werden, er kann sich jedoch 44 Tage bis zum Einmarsch der Amerikaner bei der Familie Winteroll in Heidelberg verstecken.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ist er wieder als Stadtsyndikus in Mannheim tätig. Er tritt in die SPD ein und geht in die Landespolitik. Er ist zeitweise Finanzminister des Landes Württemberg-Baden. Von 1948 bis zu seinem Tod 1949 amtiert er als Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. Er hatte die erste Direktwahl nach dem Zweiten Weltkrieg mit Unterstützung von KPD und DVP gegen den Amtsinhaber mit 56,6 Prozent gewonnen. Er starb 1949 mit 60 Jahren an einem Herzanfall.

Das Schicksal der Familie Rheinauer

Lehmann Rheinauer, der Mitbegründer von 1900, ist schon 1927 mit 66 Jahren verstorben. Seine Witwe Friederike wurde 1940 nach Gurs deportiert und ist mit 73 Jahren ins Internierungslager Rivesaltes verlegt worden, wo sie gestorben ist. Ihre Tochter Flora, 44 Jahre wurde ebenfalls nach Südfrankreich deportiert. Von Gurs wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

Koloniale Faserstoffe für die Bürstenfabrikation

Es handelt sich bei den verarbeiteten Rohstoffen im Wesentlichen um Naturfasern aus tropischen Ländern. Die Liste des Warenbestands bei dem Zwangsverkauf in der NS-Zeit zeigt folgende Inhalte des Lagers:

  • Bahia Piassava 6.000 kg
  • Afrika Piassava mit verschiedenen Namen, z.B. Monrovia, Cap Mount, Lulimah
  • Para roh
  • Rohbussine
  • Palma gehechelt
  • Reiswurzeln Maya
  • Coros
  • Sisal Manila
  • Arega
  • Bahia-Zupf
  • Gesponnene Union
  • Fiberabfälle
Naturborsten Bürste
Naturborsten

Man könnte meinen, dass diese pflanzlichen Rohstoffe heute gar keine Rolle mehr spielen. Jedoch heißen „Wurzelbürsten“ nicht so, weil man damit Wurzeln säubern soll, sondern weil sie aus den harten, zähen Wurzelfasern einer Grasart aus Mexico hergestellt werden. Auch Straßenbesen sind teilweise heute wieder aus Piassava. Solche Naturborsten werden umweltbewusst für Straßenbesen und Kehrmaschinen eingesetzt, um Microplastik auf den Gehwegen zu vermeiden, das sich durch das Kehren mit Kunststoffbesen absetzt. Bahia-Piassava z.B. stammt aus Brasilien. Es handelt sich dabei um die Blattscheidefasern der Strickpalme (Attalea funifera). Die Fasern haben eine rötlich bis bräunliche Farbe, sind sehr elastisch, abgeflacht, bis zu einem Meter lang und 0,8 -2,5 mm dick.

Viele Informationen über pflanzliche Fasern als Besatz für Bürsten stellt die Webseite von des Bürstenrohstoff-Herstellers Wimmer GmbH zur Verfügung. Interessant ist, dass auch heute noch die Fertigung von Bürsten durch Blinde eine – wenn auch abnehmende – Rolle spielt.

Quellen:
  • Nachlass Cahn-Garnier im Marchivum Mannheim
  • Adressbücher der Stadt Mannheim
Erbauer
Cahn & Rheinauer
Bauzeit / Umbauten
1910
Autor*in
Barbara Ritter 02.2021
Letzte Änderung
Objektnummer
384
Adresse
Industriestraße 41
68169 Mannheim
Geo
49.5136949, 8.470185
Barrierefrei
Ja