Ehemalige Filzfabrik Hess in Speyer, Wohn- und Gewerbepark
Die St. German-Straße südlich des Doms ist ein beschauliches Wohngebiet - bis man auf das Tor der „Melchior Hess Filzfabrik“ trifft. Hier beginnt ein ehemaliges Industrieareal, das sich im Umbruch zu einem Wohn- und Gewerbe-Park befindet. Links steht ein zweistöckiges Pförtnerhaus, das mit seinen vielen Gauben und dem tief gezogenen Dach sehr verspielt wirkt. Rechts steht ein stattliches, dreistöckiges Industriegebäude mit schwungvollem Giebel in typischer Jugendstil-Architektur. Große graue Sprossenfenster kontrastieren gut zum frischen grün-weißen Anstrich.
Der ehemalige Fabrikeingang ist ein ummauerter Durchgang zwischen beiden Gebäuden. Auf abblätterndem Putz ist unter dem Bogen der Fassade der Schriftzug „Melchior Hess Filzfabrik“ in braunen geraden Lettern montiert. Das eiserne Tor des Fabrikeingangs hat sparsame Jugendstilverzierungen. Man blickt durch das Tor auf einen weitgehend leer geräumten Hof und auf frisch sanierte hohe Backsteingebäude. Rechts befindet sich eine in den Boden eingelassene hölzerne Waage. Geht man um das grüne ehemalige Lagergebäude herum, an Geschäfte im Erdgeschoss vorbei, gelangt man auf einen Platz, der als Parkplatz für die anliegenden Läden, Praxen und den Supermarkt genutzt wird.
Doch sofort zieht ein imposanter viergeschossiger Ziegelbau mit hohen Fenstern und neun ausladenden, angehängten Balkonen den Blick auf sich. Von 2008 bis 2011 wurde das große Produktionsgebäude aus dem Jahr 1904 (Inschrift oben an der Fassade) zu großzügigen Lofts und Geschäftsräumen umgebaut. Der Bau hat nach Westen 14 Fensterachsen und ist mit dunkelroten Backsteinen gegliedert. Das Flachdach ist zu einer Dachterrasse ausgebaut, die in der Mitte mit einem eingeschossigen Aufbau überdacht ist. Die vier Maisonnette-Wohnungen des obersten Stockwerks haben hier ihren Zugang zur Dachterrasse mit weitem Blick.
Interessant ist die denkmalschutzgerechte Lösung für die Fenster: Die originalen aber entglasten Industriefenster geben mit ihren Stahlrippen die Teilung vor, die tatsächlichen modernen Glas-Fenster sind in der Dämmebene der Fassade weiter innen angebracht. Von den Wohnungen aus betrachtet ist diese Lösung ästhetisch und wirk keineswegs „vergittert“. Rollladen sind unsichtbar untergebracht.
Auf der Rückseite hat das Gebäude unterschiedliche Geschosshöhen, dort ist auch der Eingang zu den Wohnungen auf den verschienen Ebenen. Die Ziegelfassade täuscht: Es ist - wie das Jugendstilgebäude auch - ein Stahlbetonbau im sogenannten „Hennebique-System“, eine sehr frühe und damals wegweisende Bauweise. Der gesamt Komplex ist Ende 2011 noch in Entwicklung und deshalb prägen eher Baustellen die Umgebung. Im südlichen Teil des Areals sollen moderne Einzel- und Reihenhäuser errichtet werden. Leider wurde vor Jahren ein einstöckiger großflächiger Lebensmittelmarkt in unmittelbarer Nähe gebaut, der den Gesamteindruck von Süd-Westen aus doch beeinträchtigt.
Fabrik für Gewehrpfropfen aus Filz und Pappe, Industriefilzfabrik
Lofts, Gewerbe und Arztpraxen.
Der kurze Name „Filzfabrik“ hat sich lang eingebürgert und lässt eher an Naturtextilien oder Filzpantoffeln denken. Doch damit liegt man falsch. Der „Büchsenmachermeister“ Melchior Hess gründete 1849 die spätere Filzfabrik - ein Gewehrproduzent also, der damals noch in der Salzgasse Jagdwaffen, insbesondere Schrotflinten herstellte. 1897 zog das Unternehmen an seinen jetzigen Standort und verlegte sich auf die Herstellung von Zubehör für Schrotwaffen: Gewehrpfropfen aus Filz und Pappe.
Filz wurde für Schrotpatronenpfropfen, welche den Lauf per Parafinierung beim Abschuss „schmieren“ und den Bleikügelchen die Richtung geben, benutzt. Es gab unter den Produkten der Firma Hess ebenfalls ein reiches Sortiment an Stanzartikeln aus Pappmache und Pappe aus eigener Herstellung, z.B. Deckel für Glasmilchflaschen, Titansterne für Nähgarne, Pyrotechnische Stanzartikel für Feuerwerk etc.
Die drei Söhne Friedrich, August und Ernst brachten die Fabrik zur Blüte. Sie erbauten einträchtig nebeneinander drei prächtigen Villen in der Sankt Markus Straße und in unmittelbarer Nähe im Jahr 1904 das große Produktionsgebäude, äußerlich im klassischen Stil, aber schon mit moderner Stahlbetonkonstruktion. Dagegen prägt Jugendstil die Fassade und Giebel des großen Gebäudes, das 1912 als Lagerhaus über die Ecke Lindenstraße/St German Straße gebaut wurde.
Das Haus brannte 1975 aus und wurde im südlichen Bereich vereinfacht und ohne Schmuckfassade wieder aufgebaut. Das Gelände war insgesamt wesentlich dichter bebaut, als es heute erahnen lässt. Um 1914 hatte die Fabrik ca. 150 Beschäftigte, in den 1960er und 70er Jahren waren es nur noch 65. Schon 1976 wurde ein Teil der Fabrikhallen von einem Einkaufszentrum genutzt. Nach dem 2. Weltkrieg wurden die großen Maschinen demontiert und nach Frankreich gebracht, die Villen beherbergten bis 1952 französische Offiziere. Die Produkte der Filzfabrik waren nun neben den Gewehrpfropfen (täglich bis zu einer Million Pfropfen!) Filzprodukte für Dämmung und gewerbliche Anwendungen. Z.B. fahren die Berliner U-Bahnen zur Vibrationsdämmung auf einer Filz-Unterlage von Hess und mit „Maurerfilzen“ von Hess werden interessante Strukturen auf dem Verputz erzielt.
Munition selbst wurde nie hergestellt. Deshalb gibt es auf dem Betriebsgelände keine Schadstoffbelastung. Zur Produktion braucht man Tierhaare, Wasser und Kartoffelstärke. Der Filz wurde aus Tierhaaren aus aller Welt hergestellt. Viele Zulieferer kamen aus der Sowjetunion sowie aus Südamerika und Nordafrika. In den 1990er Jahren kam es zu massiven Rohstoffengpässen. Die Lieferungen aus den neuen GUS-Staaten wurden unzuverlässig, gleichzeitig drängten von dort Billiganbieter für Filzwaren auf den Markt. In Südamerika wurden die Tierhäute nicht mehr gegerbt sondern verbrannt, denn im US-amerikanischen Schuhmarkt setzten sich Kunststoff- statt Ledersohlen durch. Damit waren auch von dort die besonders gut zu verarbeitenden Tierhaare als Rohstoff nicht mehr verfügbar. Gleichzeitig brach der große nordamerikanische Markt für Gewehrpfropfen weg, weil in den USA von Bleischrot auf Stahlschrot umgestellt wurde. In dieser Situation konnte sich die letzte deutsche Haarfilzfabrik, die einst weltweit vernetzt war, nicht mehr länger halten. Mit zuletzt 14 Beschäftigten wurde die Filzfabrik im Jahr 1996 stillgelegt
Es gab mehrere Planungen für die Nachnutzung des Areals. Auch Studierende der Hochschule Darmstadt beteiligten sich mit einem Wettbewerb. Der Speyrer Künstlerbund nutze die Fabrikhallen für Kunstprojekte und Ausstellungen. Erst 2006 wurde der Bebauungsplan beschlossen, der großen Wert auf die Nahversorgung mit Einzelhandelsgeschäften legt. Teile des Komplexes wurden unter Denkmalschutz gestellt, das Pförtnerhaus, der Eingang, das Jugendstilhaus und das große Backsteingebäude. Weiterhin das „Hofschlösschen“, ein fast verstecktes, barockes Häuschen mit Gartenanlage im östlichen Teil des Areals. Die den Garten umgebenden kleinen Häuser in der Sankt Markus Straße 6 sind alte Arbeiterhäuser der Filzfabrik.
Die Gebäude standen über 10 Jahre zum Großteil leer. Lediglich eine der ehemaligen Hallen im Westen wurden von einem Lebensmittelmarkt genutzt. Diese sind wie auch der hohe Schlot abgerissen. Die Umnutzung der großen Industriegebäude im zentrumsnahen Wohngebiet war architektonisch durchaus eine große Herausforderung und ist auch in vielen unsichtbaren Details gut gelungen.
- Rheinpfalz vom 22.05.1996 und 28.08.2004
- Gespräch mit M. Fritz (Architekt) und Rolf Siebecker
- Plan 1912 von Stadtplanungsamt