ehemaliges Verwaltungsgebäude des Industrieversicherers Gerling

Das Erdgeschoss und das oberste Geschoss (das ehemalige Direktionsgeschoss) des 41 m langen fünfgeschossigen Stahlbetonbaus werden durch Doppelstützen, zwischen denen nischenhaft großformatige Fenster eingesetzt sind, gekennzeichnet. Oberhalb und unterhalb der drei mittleren Stockwerke gliedert ein kräftig profiliertes Gesimsband die Fassade. Der Traufbereich des Flachdaches springt weit vor. Die Verkleidung mit hellem Naturstein umfasst auch die scharfkantigen Doppelstützen. Dieses charakteristische Gestaltungselement hatte der Architekt Arno Breker (1900-1991) den Plänen seines aus Mannheim stammenden Förderers und engen Freundes Albert Speer (1905-1981) entnommen, die dieser 1940 im Rahmen der Berliner Germania-Entwürfe für das Oberkommando der Wehrmacht entwickelt hat. Durch die Umwidmung zu Wohnungen erhielt die Südseite Balkonanlagen. In die beiden Schmalseiten - ursprünglich mit Ausnahme des obersten Geschosses fensterlos - wurden Belichtungsöffnungen eingeschnitten. Ein zusätzlicher Eingang an der Spinozastraße führt heute in ein neues Treppenhaus.

Auf dem ehemaligen Grundstück des Kaufmanns Max Weinberger in der Spinozastraße 4 erhielt der langgestreckte neoklassizistische Verwaltungsbau einen leichten eingeschossigen geschwungenen Anbau aus einer Stahl-Glas-Konstruktion im modernen Stil der Fünziger Jahre. Das stilistisch vom Hauptgebäude völlig abweichende Kasino geht vermutlich auf Irene Gerling (1918-1990) zurück, die mit ihrem Ehemann Hans Gerling (1915-1991) im Jahre 1959 die Baukunst-Architekturgesellschaft sowie 1964 die Baukunst-Galerie begründete mit dem klar formulierten Ziel, Bauen und räumliche Gestaltung als künstlerischen Ausdruck in das Wirtschaftsleben zu integrieren. 

Das Innere des Verwaltungsgebäudes atmet den Geist eines einheitlichen gut durchdachten, detailreichen Gesamtkunstwerks der Fünfziger Jahre. Die Oberflächen der Wände, Decken und Böden sind mit edlen Hölzern, Stuck und Natursteinen verkleidet. Die freitragende Innentreppe bildet im Entree einen schönen skulpturalen Blickfang. Das Kasino verfügt über ein kleines Gäste-Separee, dem eine holzvertäfelte Bar mit Messingbeschlägen angeschlossen ist.

An der städtebaulich markanten Einmündung der Otto-Beck-Straße in die Spinozastraße steht die von Arno Breker schon 1951 geschaffene überlebensgroße weibliche Gewandfigur aus Muschelkalk. Im Sockel ist die Gravur des Bildhauers eingeritzt. Breker hatte nach dem Ersten Weltkrieg und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg jeweils kurze Schaffensphasen, in denen er abstrakt arbeitete. Jedoch hielt er diese Werk später künstlerisch nicht für besonders überzeugend. In verschiedenen Interview um 1980 begründete er den Duktus der Gewandfigur damit, dass er sich in Mannheim den baulichen Gegebenheit anpassen musste, da das Haus eine vollkommen glatte Fassade habe. Und nach dem Zweiten Weltkrieg schuf er nur deshalb abstrakte Frauenskulpturen, da er keinen Namen, kein Geld und keine Modelle hatte. Die Mannheimer Gewandfigur bleibt im Oeuvre des Künstlers ein eigentümliches Zeugnis, da er bald wieder zum naturalstisch-idealistischen Stil zurück kehrte.

Nutzung (ursprünglich)

Verwaltungsgebäude

Nutzung (derzeit)

Wohngebäude

Geschichte

Auf dem Grundstück befanden sich bis zum Zweiten Weltkrieg das Doppelhaus der beiden jüdischen Kaufleute Louis Meyer-Gerngroß und Max Meyer - beides Geschäftsführer der Hermann Gerngroß GmbH - sowie die Villa des jüdischen Handelsmanns Max Weinberger in der Spinozastraße 4. Die noch lebenden Bewohner der erwähnten Grundstücke, die 74jährige Helene Meyer-Gerngroß sowie der 72jährige Max Weinberger wurden 1940 ins Konzentrationslager Gurs in Südfrankreich deportiert, wo Helene Meyer-Gerngroß verstarb und der hoch betagte Max Weinberger nach der Befreiung des Lagers 1945 nach England übersiedelte. Die arisierten Mannheimer Wohnhäuser wurden durch Spreng- und Brandbomben im Zweiten Weltkrieg zerstört.

Die 15köpfige, im Ausland lebende Erbengemeinschaft der Helene Meyer-Gerngroß erhielt das Grundstück Otto-Beck-Straße 36/Spinozastraße 2 im Jahre 1952 vom Reichsfiskus zurück und veräußerte es im Dezember 1956 für 60.000 DM an den Kölner Gerling-Konzern. Das Unternehmen war seit 1920 auch in Mannheim ansässig. Der Gründer Robert Gerling (1878-1935) war der bevollmächtigte Vertreter der Rheinischen Versicherungsgruppe, zu der die Rheinische Feuerversicherungs AG, die Kronprinz-Versicherungs AG sowie die Allgemeine Versicherungs AG Köln gehörte. Der Gerling-Konzern zählte zu den Marktführern der Industrieversicherer in Europa und ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in die HDI-Versicherung aufgegangen.

Der jüngste Sohn des Firmengründers Hans Gerling leitete die Geschäfte ab 1949. Unter ihm stieg der NS-Künstler und Architekt Arno Breker zum bekanntesten Mitarbeiter des Konzerns auf. Die Familien Gerling und Breker waren zeitlebens freundschaftlich verbunden. Schon 1928 hatte Breker eine Bronzebüste des aus Elberfeld stammenden Firmengründers geschaffen. Der NS-Bildhauer, der durch seine im Dritten Reich als Staatsauftrag geschaffenen Monumentalplastiken bekannt ist, erhielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum bildhauerische Aufträge. Breker profitierte während der NS-Zeit wie kein anderer Künstler von seiner Nähe zu Adolf Hitler, Albert Speer, Hermann Göring und anderen NS-Größen. Sein Name befindet sich an erster Stelle auf der vom Reichspropagandaministerium erstellten Sonderliste der sogenannten Gottbegnadeten-Liste. 1939 bezog Breker die Berliner Wohnung des verstorbenen jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau, die dessen Schwester fluchtartig verlassen musste und 1942 betrieb der Bildhauer sowohl die Enteignung eines jüdischen Villengrundstücks in Berlin als auch die des Luxusappartements der Helena Rubinstein in Paris, um in beiden Quartier beziehen zu können.

"Ich bin ja von Hause aus Architekt...Mein Glück war, dass ich Architektur studiert habe und zwölf Jahre davon leben konnte, für Gerling Architekturen zu machen", erklärte er im Jahre 1979 dem Journalisten André Müller. Für das Mannheimer Verwaltungsgebäude der Fa. Gerling wird im Bauantrag "Professor Arno Breker" als Planfertiger und Bauleiter angegeben. Als Adresse des Baubüros des Gerling-Konzerns wird die Niederrheinstraße 239 in Düsseldorf genannt. Hierbei handelt es sich um Brekers Privatanschrift. Er hatte das über 12.000 qm große Anwesen mit Gebäudebestand im Jahre 1952 erworben und hier seine Wohnung, sein Atelier und auch das Gerling-Baubüro eingerichtet.

Der Versicherungskonzern Gerling - 1940 als "Nationalsozialistischer Musterbetrieb" ausgezeichnet - beteiligte sich an Arisierungsaktionen und am Konsortium der KZ-Policen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Bauherr und Architekt an die Erfolge des Dritten Reichs nahtlos anknüpfen, was ein beredtes Zeugnis für die Kontinuität von Nutznießern des NS-Regimes nach der "Stunde Null" ist. Die architektonische "Vereinnahmung" der Grundstücke Otto-Beck-Straße 36/Spinozastraße 2-4 in der Nachkriegszeit durch Gerling als Bauherrn und Arno Breker als Architekt und Bildhauer legt einen übermächtigen Schatten der Vergangenheit auf das ehemalige Anwesen der vertriebenen und ermordeten jüdischen Eigentümer.

In den Jahren 1989-91 führte die wirtschaftliche Expansion des Gerling-Konzerns zum Erwerb des Nachbarwesens Otto-Beck-Straße 34 mit dem dort befindlichen Klinkerbau des Rheinischen Braunkohlensyndikats von 1923 (/objekte/ehemaliges-verwaltungsgebaeude-des-rheinischen-braunkohlensyndikats-in-mannheim). Beide Gebäude wurden mit einem zweigeschossigen Gelenktrakt verbunden.

Nach der Spitzenzeit des Unternehmens im Jahre 2000 mit weltweit 11.000 Mitarbeitern brachten Managementfehler aber kurze Zeit später unter dem Druck der Globalisierung die Firma nahezu an den Rand des Ruins. Nur zwei Jahre nach dem hundertjährigen Firmenjubiläum sah sich der Sohn von Hans und Irene Gerling, Rolf Gerling, im Jahre 2006 veranlasst, den Konzern für 1,4 Mrd. Euro an die Versicherungsgruppe HDI zu verkaufen. Damit endete die Eigenständigkeit des zweitgrößten deutschen Versicherungsunternehmens.

Nachdem sich für die beiden Verwaltungsbauten Otto-Beck-Straße 34 und 36 keine Nachnutzung als Bürogebäude fand, gingen beide Häuser im Jahre 2014 in den Besitz der Projektentwicklungsfirma Quadriga über, die sie mit Wohnungen umbaute. Die Firma Quadriga verlegte außerdem ihren Sitz von Speyer in das Erdgeschoss der Otto-Beck-Straße 36.

Quellen:
  • Monika Ryll: Otto-Beck-Straße 36/Spinozastraße 2-4 - eine Adresse von stadtgeschichtlicher Relevanz, in: Mannheimer Geschichtsblätter 28, 2014, S. 78-94;
  • Andreas Schenk: Gerling-Konzern, in: Mannheim und seine Bauten, Bd. 2, 2000, S. 91;
  • Andreas Schenk/Sandra Wagner: Eine neue Stadt muss her! Architektur und Städtebau der 50er Jahre in Mannheim, hrsg. vom Stadtarchiv Mannheim und Mannheimer Architektur- und Bauarchiv e.V., Berlin 1999, S. 80-81.
Eigentümer
Eigentümergemeinschaft
Erbauer
Gerling-Konzern
Architekt
Arno Breker
Bauzeit / Umbauten
1957-58; Verbindungsbau zur Otto-Beck-Straße 34 entstand 1989-91; Umbau zu Wohnungen 2014-2017
Autor*in
Monika Ryll
Letzte Änderung
Objektnummer
351
Adresse
Otto-Beck-Straße 36
68165 Mannheim
Geo
49.48225, 8.486
Kontakt

Quadriga Projektentwicklungs GmbH & Co.KG
Otto-Beck-Straße 36
68165 Mannheim

Tel. 0621-87207310

Zufahrt

ÖPNV Buslinie 60, 63, 64 (Haltestelle Otto-Beck-Straße)

Öffnungszeiten

öffentlich nicht zugänglich

Denkmalschutz
Ja
Barrierefrei
Ja