Hutchinson im Mannheimer Industriehafen
Nicht zu übersehen ist der blaue Schriftzug „HUTCHINSON“, der wie ein überdimensionales Werbeschild eine ganze Giebelseite der alten Fabrikhallen einnimmt. Die Fabrik in der Hansastraße lässt nicht auf den ersten Blick ihr Alter erraten, denn die Backsteinbauten sind verputzt und braun gestrichen. Doch die Fassadengliederung und die Form der Fenster sind klassisch für die Zeit um 1900. Die französische Gummi- und Kautschukfabrik „Etablissement Hutchinson“ gehörte zu den ersten Fabriken, die aus den Quadraten an den damals neu angelegten Industriehafen zogen.
Viele der Gebäude, die auf alten Briefköpfen der Firma als Zeichnungen abgebildet sind, kann man heute noch erkennen. Auch im Inneren sind noch bauzeitliche Elemente vorhanden. So sind die gusseisernen Säulen der „Eisenberger Hütte“ zwar vielmals überstrichen, aber nicht verschalt. Die Produktionshalle im obersten Stock ist zu großzügigen Büros für den Vertrieb umgebaut worden. Die Dachbalkenkonstruktion ist an vielen Stellen noch zu sehen. Die Fenster in ihrer klassischen flachen Bogenform sind vermutlich in den 1960er Jahren ersetzt worden. Der Fabrik-Schornstein ist als 5 Meter hoher Stumpf erhalten. Einige der gründerzeitlichen Shedhallen stehen noch und werden genutzt. Das Erdgeschoss eines weiteren, aus den Jahren um 1900 stammenden Gebäudes ist der Sitz der Geschäftsleitung, die Kantine ist ebenfalls hinter alten Mauern untergebracht.
Relativ neu gebaut ist das große Areal der Shedhallen entlang der Lagerstraße, auf dem bis 1978 die Werner & Nicola Germania-Mühlenwerke standen. Von der Hafenseite aus macht Hutchinson mit einem freistehenden, nachts leuchtenden Schriftzug auf dem Dach auf sich aufmerksam. Die Fabrik erstreckt sich mit langen modernen Industriehallen aus Glas, Beton und Backstein ziemlich flach am Ufer entlang.
Hutchinson in Mannheim stellt keine Produkte für den Endverbraucher her. Dennoch ist es erstaunlich, wo überall im täglichen Leben Produkte von Hutchinson „versteckt“ sind – z.B. stammt fast alles aus Gummi beim Auto von Hutchinson – mit Ausnahme von Reifen. Die Produktpalette umfasst alle auf Basis von Naturkautschuk und synthetischem Kautschuk und seit einigen Jahren auch aus Kunststoff hergestellten Erzeugnisse besonders für Schlauchsysteme, Antriebs- und Schwingungstechnik, Klimatisierung, Dichtungen, Geräuschisolierung, Militär- und Sicherheitstechnik. Die Hutchinson-Gruppe umfasst weltweit rund 95 Produktionsstätten mit mehr als 28.000 Mitarbeitern in 18 Ländern. Der Schwerpunkt der Produktion und des Umsatzes liegt deutlich in Europa. In Mannheim arbeiten rund 300 Personen.
Gummiwarenfabrik, Produktion und Vertrieb
Gummiwarenfabrik, Produktion und Vertrieb
„Die Hutsch“ sagt man in Mannheim, und viele denken an Fahrradreifen und Gummistiefel. Tatsächlich sollte man den Namen Hutchinson irisch oder amerikanisch aussprechen, denn von dort stammt der Gründer der Gummifabrik, der nach einer gründlichen Marktanalyse Frankreich als seinen Ausgangspunkt für den europäischen Markt für Hart- und Weichgummiprodukte und Kautschuk wählte. Der Ingenieur und Gummibaumplantagenbesitzer (Bolivien und Guyana) Hiram Hutchinson (1808–1869) hatte von seinem Freund Charles Goodyear (1800–1860) das Patent für die Vulkanisation von Naturkautschuk erworben, das er nur in Europa anwenden durfte. 1853 gründete Hutchinson in Montargis/Frankreich sein erstes Werk, wo er Gummistiefel herstellte, 1857 eröffnete er in Picpus (Paris) eine zweite Fabrik.
Das Logo
Aus den USA brachte Hutchinson sein Logo mit: ein von Sternen umgebener Adler. Das heutige grafische Logo der Firma bezieht sich auf die ausgebreiteten Schwingen des Adlers. Die Marke Aigle (Adler) hat sich für wasserdichte Freizeitmode in Frankreich bis heute erhalten.
Die Anfänge in den Quadraten
Die Geschichte von Hutchinson in Mannheim konnte mit Quellen aus dem Stadtarchiv und Generallandesarchiv Karlsruhe verfolgen werden (Quelle 1), denn diverse Veröffentlichungen gaben unterschiedliche Gründungsdaten (überwiegend 1850, manche 1853) an, allerdings ohne Quellen. Sogar auf einem Briefkopf der Firma aus dem Jahr 1924 ist als Gründungsdatum 1850 angegeben. Möglicherweise hatte Hutchinson damals schon Handelbeziehungen in Mannheim, eine Firma ist jedoch nicht nachweisbar.
In Mannheim kaufte Hiram Hutchinson Ende 1859 für „147 000 fl in baar“ die kleine „Kautschuk und Guttapercha-Fabrik“ von Schalk und Berger in der Innenstadt. Sie war 1857 im Quadrat S 6 1, das schräg gegenüber dem städtischen Krankenhaus liegt, gegründet und bald wieder stillgelegt worden. Die bürokratischen Hürden für den Amerikaner Hutchinson und den Franzosen Wagner aus Paris müssen hoch gewesen sein, denn der Vorbesitzer der Kautschukfabrik, Emil Schalk, beklagte sich in einem Schreiben an die badische Regierung, dass die Betriebsgenehmigung schon fünf Wochen ausstehe (Quelle 2).
Am 5. Januar 1860 wurde die Fabrik zum Betrieb zugelassen „unter der Bedingung, das keine der Gesundheit nachtheilige Betriebsweise darin eingeführt werde“… und dass es „besser als früher betrieben und bei entsprechendem Erfolge auch fortdauern werde“ (Quelle 2).
In den Ratsprotokollen der Stadt wird „Hutchinson, Smyth & Companie“ 1860 erstmals erwähnt, ab 1864 ist die Fabrik unter „Hutchinson Wagner & Companie“ in den Adressbüchern geführt. Es werden vor allem Gummischuhe hergestellt.
1870 produzierte Hutchinson in insgesamt drei Werken täglich 8.000 Paar Gummischuhe, die in alle Welt verschifft wurden, vor allem in die Türkei, nach Skandinavien, USA und Australien. Ab 1880 kamen Fahrradreifen hinzu. Offenbar hatte an dem Export in die mitteleuropäischen Länder der Mannheimer Betrieb eine bedeutende Rolle (Quelle 2).
Gummiindustrie in Mannheim
Hutchinson und sein Vorläufer war die erste Gummifabrik in Mannheim, aber nicht die einzige. Nach Angaben des Jubiläumsbandes „Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart 1607–1907“ hat 1864 die amerikanische Gummi- und Celluloidfabrik von Sonneborn, Falke und Co. (später „Mannheimer Gummi- Guttapercha- und Asbestfabrik“) die Produktion von Dichtungen und Isolationsmaterial aufgenommen.
1873 gründete Friedrich Julius Bensinger (1841–1891) die Hartgummiwarenfabrik, die zuerst Kämme und Schmuckgegenstände herstellte und die nach einem verheerenden Brand als „Rheinische Gummi- und Celluloidfabrik“ wieder erstand. Später war sie bekannt für die Schildkrötpuppen.
1897 wurde Rode und Schwalenberg gegründet, eine Gummistoff-Fabrik die vor allem für die Krankenpflege produziert. Ihre Begründer hatten zuvor bei Hutchinson gearbeitet. 1898 entstand die Fabrik für wasserdichte Wäsche Lenel, Bensinger und Co in Neckarau.
Außerdem nahm in Weinheim 1896 die Gummi- und Guttperchawaren-Fabrik Weisbrod & Seifert GmbH die Produktion von Feuerwehrschläuchen auf. Sie wurde 1991 nach ihrem Konkurs von Hutchinson übernommen.
Neubau am Industriehafen
Die Fabrik von Hutchinson in S 6, 1 wird zu eng. Die Stadt bietet günstige Bauplätze im neuen Industriehafen an. Hutchinson kauft offenbar gleich zwei Flächen von 12.000 und 3.000 m² und beginnt 1898 mit dem Neubau (Quelle 4). In „Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart“ aus dem Jahr 1907 wird berichtet, dass die Fabrik damals 30 Beamte und 250 Arbeiter beschäftigt und Waren aus Weichgummi aller Art und Gummischuhe hergestellt werden. 1914 sind es bereits 1000 Beschäftigte (Quelle 3).
Von 1900 an produziert Hutchinson Vollgummireifen für Autos, in Mannheim für die Automobilfabrik Benz. Auch Dichtringe, Brems- und Kupplungsbeläge, Kühlwasserschläuche und Scheibenfassungen, praktisch alles aus Gummi für das Auto fertigt man bei Hutchinson. Die dritte Generation der Familie Hutchinson verkauft 1898 das Unternehmen an Investoren, im Jahre 1903 wurde es in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und der Geschäftssitz auf den Champs-Elysées in Paris bezogen (Quelle 3).
Werbekampagne mit Cartoons
Bekannt war Hutchinson für die gute Qualität seines Hartgummis, der als „härter als Stahl“ gepriesen wurde. Neben frühem Sponsoring der Tour der France startete das Unternehmen 1911 eine Werbekampagne mit dem bekannten Cartoonisten MICH (Jean-Marie-Michel Liébaux, 1881–1923) der für das berühmte Magazin „La Vie Parisienne“ arbeitete. Seine Kunstfigur des Scherenschleifers, der auf den Hartgummireifen seine Messer schleift oder mit dem Moped durch Glasbruch fährt, wurde Jahrzehnte lang die Werbemarke für Hutchinson-Produkte. Der „rémouleur“, der Schleifer mit seinem kleinen Hund „Floc“, war Titelgeber für die Hauszeitschrift von Hutchinson in Frankreich.
1. Weltkrieg und Expansion in den 1920er- und 30er-Jahren
Hutchinson stellt inzwischen auch für die aufkommende Luftfahrt (Flugzeuge und Luftschiffe) gummibezogene Planen her. Im 1. Weltkrieg kamen in Frankreich Militäraufträge für Zelte, Gasmasken, Stiefel, LKW- und Flugzeugreifen hinzu. Die Mannheimer Fabrik war im Krieg beschlagnahmt worden (Quelle 3); konkretes ist über diese Zeit nicht zu erfahren.
Die Zeit der 20 Monate andauernden französischen Besetzung des Mannheimer Hafens von 1922 bis 1924, die andere Betriebe wie z.B. die Bäckerei der Konsumgenossenschaft in schwere Bedrängnis brachte, dürfte für das französische Unternehmen weniger schwierig gewesen sein. Jedenfalls hat sich das Unternehmen schnell wieder erholt.
1925 gibt das Badische Statistische Landesamt folgende Zahlen an: „Gummiwarenfabrik Etablissments Hutchinson AG.: 986 Arbeiter (452 männlich, 534 weiblich). Die Fabrik, seit 1890 AG, ist Weichgummiwarenfabrik, deren Fabrikate Turnschuhe mit angegossener Gummisohle, Gummioberschuhe und Schneeschuhe, Fahrrad- und Motorradreifen, technische und chirurgische Gummiweichwaren sind. Die Fabrik, die sich seit ihrer Gründung zu einem erstklassigen und einem der bedeutendsten Großbetriebe am Platze entwickelt hat, siedelte im Jahr 1902 in einen Neubau am Mannheimer Industriehafen über.“ (Quelle 1)
In den 20er und 30er-Jahren expandierte Hutchinson, die inzwischen auch in Italien und Spanien produzierten. Gummi setzte sich als Material in allen Lebensbereichen durch. Die Produktion umfasste nun Schuhe, Stoffe, Absätze, Reifen und Schläuche für Fahrräder, Autos und LKW, Freizeit, Bälle, technische Ausrüstung, Bodenbeläge sowie Einmachringe. Dazu kommen schon damals spezielle Reifen mit Notlaufsystemen für militärische und zivile geschützte Fahrzeuge.
2. Weltkrieg und Boom der Nachkriegsjahre
Der 2. Weltkrieg hat Hutchinson von seinen Werken in Deutschland, Italien und Spanien erneut abgeschnitten. In Frankreich produzierte Hutchinson zuerst Militärausrüstung, unter deutscher Besatzung dann Schuhsohlen und Fahrradreifen. Wegen Mangel an Rohstoffen kam es zu einem drastischen Produktionsrückgang (Quelle 3).
Was und wie im Mannheimer Werk produziert wurde, ist unklar, jedenfalls wurden dazu auch Zwangsarbeiter eingesetzt. 45 zivile „Ostarbeiter“ – also Arbeiterinnen und Arbeiter aus Russland – werden in den Akten der Mannheimer Stadtverwaltung aus dem Herbst 1944 aufgeführt (Quelle 5).
Schon 1931 hatte der französische Gummiwaren-Hersteller MAPA den künstlichen Schwamm „Spontex“ erfunden. 1948 kamen als weltweiter Verkaufsschlager noch Latex-Handschuhe für Haushalt, Handwerk und Industrie hinzu. Diese Firma und weitere Gummiwarenhersteller fusionierten in den 1960er- und 70er-Jahren mit Hutchinson. Die Produktion erweiterte sich so auf Haushaltsgegenstände wie NUK Babyschnuller und Sauger und Kondome (Blausiegel, Fromm, Hanseatische Gummiwarenfabrik in Bremen), Luftmatratzen, Gummiboote usw. (MAPA-Spontex wurde 2009 in die Mutterfirma TOTAL S.A. integriert und 2010 an den amerikanischen Konzern Jordan verkauft.) Mit Antivibrationsausstattung steigt Hutchinson gleichzeitig bei der Raumfahrt ein.
In den 1970er-Jahren expandiert Hutchinson auch in Mannheim kräftig, baut auf dem frei gewordenen Nachbargelände (bis 1978 die Werner und Nicola Germaniamühlenwerke) moderne Shedhallen (35 000 m²). Seit 1974 gehört die Hutchinson S. A. zur Chemical Division des französischen TOTAL-Konzerns.
Konzentration auf Automobil und Vertrieb in Mannheim
Ende der 1970er-Jahre zählte man in Mannheim 400 Beschäftigte, die ausschließlich für den Automobilsektor produzierten. Vorher wurden auch noch Fahrradreifen hergestellt. 1983 hielt sich die Zahl der Arbeitsplätze in Mannheim auf 400, 200 waren mit Frauen besetzt. Von den männlichen Mitarbeitern in der Produktion sind 90 % ausländischer Herkunft, vorwiegend aus der Türkei (Quelle 6).
Nachdem Ende der 1990er-Jahre die Produktion von Gummischläuchen für die Automobilindustrie weitgehend in neu geschaffene Hutchinson-Werke nach Osteuropa ausgelagert worden ist, hat sich die Belegschaft auf 250 verkleinert. Gummi wird immer noch in der hauseigenen Mischerei produziert, allerdings nicht mehr in Mannheim verarbeitet. Hutchinson Mannheim liefert die Mischungen an verschiedene Hutchinson-Werke, vor allem in Osteuropa.
Mannheim ist Hauptsitz der Hutchinson GmbH in Deutschland. Von hier aus werden die Vertriebsaktivitäten der Hutchinson-Firmen für den deutschsprachigen Raum geleitet. Geliefert wird vorwiegend an die Automobilindustrie (mehr als 60 %), aber auch an die allgemeine Industrie, die Luft- und Raumfahrt und den Schienenfahrzeugbau. Mittlerweile werden von hier aus auch Produkte aus Gummi, Gummi-Metall und Kunststoff nach Osteuropa sowie weltweit vertrieben.
Mannheim ist in Deutschland das Hutchinson-Entwicklungszentrum für mediumführende Leitungssysteme aus Gummi und Kunststoff. Der Entwicklung folgt der Prototypenbau, der auch hier angesiedelt ist. Außerdem werden heute in Mannheim Radbaugruppen mit Notlaufsystemen für militärische und zivile geschützte Fahrzeuge hergestellt, etwa für die britische Königin oder den amerikanischen Präsidenten. 1990 wurde hierfür eine Montagestation eingerichtet, die sich mittlerweile auf mehrere Hallen ausgeweitet hat.
- Christel Hess, Die Anfänge der Firma Hutchinson in Mannheim, Eine Auswertung der Quellen in Mannheim und Karlsruhe, Expose für das Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim 2001
- Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe, Bestand Innenministerium, Specilia Mannheim, Ab- 236.6722
- The Album, Hutchinson worldwide, 1853-2003: 150 Years of memories, Les éditions Textuel 2003.
- Sigmund Schott, Der Industriehafen zu Mannheim, Festschrift zur Einweihung 1907
- Klaus Dagenbach, Peter Koppenhöfer: Eine Schule als KZ, Hg.Verein KZ-Gedenkstätte Sandhofen e.V., S. 160 ff Zwangsarbeiterlager und -unterkünfte
- Rhein-Neckar-Zeitung 6.4.1983