Schaufensterfiguren-Kabinett in Speyer
Es sind unsterbliche Schönheiten zwischen Kunst, Handwerk und Industrie: Man nennt sie auch „Mannequin“. Gemeint ist damit nicht nur eine „weibliche Person, die Modekollektionen vorführt“ (Duden), sondern ebenso die Schaufensterfigur, wie sie in der Fachsprache bezeichnet wird, oder – eigentlich zu vulgär ausgedrückt – die Schaufensterpuppe.
Eine einzigartige wissenschaftliche Studiensammlung von Schaufensterfiguren hat der Kulturwissenschaftler und Kurator Wolfgang Knapp zusammengetragen. Eine Auswahl von 30 Figuren veranschaulicht den Zeitgeist von der Belle Epoque um 1900 bis in die Gegenwart. Modeströmungen, Moralvorstellungen, Schönheitsideale und Herstellungstechniken können anhand von Körpersilhouetten, Frisuren und Werkstoffen hautnah nachvollzogen werden. Nicht nur lasziv blickende Diven und Gigolos der 1920er Jahre, sondern z. B auch lebenslustige, wohlbeleibte Herren oder elegante Damen mit Wespentaille aus den 1950er Jahren werden vorgestellt.
Das Historische Museum der Pfalz in Speyer beherbergt diese Sondersammlung von Wolfgang Knapp seit 2016 in seinem Depot (Sammlungszentrum) in der alten Baumwollspinnerei (siehe dazu die Objektbeschreibung der Baumwollspinnerei). Der Mannheimer Kulturwissenschaftler, betreut damit ein in dieser Form einzigartiges Projekt: den Aufbau eines Archivs und Museums zur Geschichte der Schaufensterfigur. Sozial-, Kunst- und Industriegeschichte sind hier auf faszinierende Art und Weise miteinander verflochten.
Eine spannende Zeitreise können Gruppen von maximal 15 Personen antreten. Wolfgang Knapp bietet nach Voranmeldung Führungen mit zwei unterschiedlichen Schwerpunkten an.
- Wespentaille und Wirtschaftswunderbauch – Schönheit und Mode im Wandel der Zeit
- Holz, Wachs, Gips und Polyester – Materialien, Techniken und Erfindungen in der Schaufensterfigurenherstellung
Die ca. einstündige Führung beinhaltet auch eine Einführung in die Aufgaben und die Organisation des Sammlungszentrums des Historischen Museums der Pfalz. Ausgewählte Figuren und Dokumente gehen außerdem auf Reisen und werden in Sonderausstellungen präsentiert.
Bezeichnung
Das Wort „Mannequin“ bezeichnet ursprünglich die maßstabsgetreuen Gliederpuppen für die Maler und Bildhauer und geht zurück auf das niederländische „manneken” – das Männchen oder Menschlein. Später wurden dann die Vorläufer der modernen Schaufensterfiguren so bezeichnet, die groß- und kleinformatigen Modepuppen, die zur Anprobe und Vorführung der neuesten Moden dienten.
Herstellung
Deutschland und Frankreich waren mit ihren in Berlin und Paris angesiedelten Kunstwerkstätten und Fabriken von ca. 1850 bis 1950 die weltweit agierenden Marktführer in der Schaufensterfiguren-Branche. Entwürfe namhafter Künstler wie Rudolf Belling, Gerhard Schliepstein und Paul Scheurich gehören zu den Höhepunkten dieser Gebrauchskunst. Der gebürtige Pfälzer Albert Lauermann gründete im 19. Jahrhundert ein Unternehmen, das sich später auf die Herstellung von Werbefiguren spezialisierte. Heute sind fast alle deutschen und französischen Traditionshersteller verschwunden. Der Markt ist internationaler geworden, die Fertigung erfolgt fast ausschließlich in Billiglohnländern.
Anwendung
Die große Zeit der wirklichen Schaufensterfiguren begann in der Belle Epoque um 1900 mit dem Aufkommen der Modekonfektion und dem Warenverkauf in den prunkvollen Kaufhäusern der großen Städte. Mit den großformatigen, bühnenartigen „Schau“-Fenstern und mithilfe der elektrischen Beleuchtung wurde der Schaufensterbummel zu einem bisher unbekannten Erlebnis, auch bei Nacht – und die Schaufenstergestaltung zu einem Spiel mit Träumen und Sehnsüchten.
Kunst
Gliederpuppen und Schaufensterfiguren waren aufgrund ihrer magischen Ausstrahlung schon immer eine künstlerische Inspirationsquelle. Maler, wie bespielweise Giorgio de Chirico, machten die Gliederpuppen zu ihrem Thema. In der Pariser Surrealismus-Ausstellung von 1938 gestalteten Marcel Duchamp, Max Ernst, André Masson oder Man Ray mit Schaufensterfiguren eine ganze „Straße der Puppen”, die große Beachtung fand. Auch für Fotografinnen und Fotografen wurden die Schaufenster-Mannequins zum Objekt der Begierde.