Ehem. Lederwerke Hirsch in Weinheim
Nicht zu übersehen bei der Ausfahrt aus dem Weinheimer Bahnhof nach Norden: Die rot-weißen kontrastreichen und bis zu fünf Stockwerke hohen Gebäude westlich ganz nahe an den Geleisen. Die ältesten Bauteile stehen auf Fundamenten, die um 1900 an dieser verkehrsgünstigen Lage gelegt wurden. Die Gebiete nördlich und südlich des Weinheimer Bahnhofs waren im Eisenbahn-Zeitalter „die“ zukunftsträchtigen Standorte für Fabriken.
Die historische Ansicht im Bild 4 zeigt in der Vergrößerung im Erdgeschoß die markanten viergeteilten großen Bogenfenster, die heute noch erhalten sind (vgl. Bild 2). Sie zeigen wie die gesamte Fassade Merkmale des Historismus.
Die innere Struktur der Gebäude ist nur zu verstehen mit Kenntnissen des Gerbereiwesens und den sich ändernden Anforderungen durch neue Technologien und Verarbeitungsmengen. Handwerkliche wie industrielle Gerbverfahren bestehen aus zahlreichen, z.T. langdauernden Schritten. Am Anfang steht die sog. Wasserwerkstatt, in der Haare und Bindegewebe entfernt werden. Detaillierte Beschreibungen finden sich in den Web-Links und den Quellen.
Das „Stammhaus“ der Hirsch-Lederwerke, die sog. Alte Fabrik, lag im Gerberbachviertel in Weinheims Altstadt. Sie wurde komplett abgerissen und durch Wohn-Neubauten ersetzt. Der Sigmund-Hirsch-Platz erinnert dort an den Gründer und wichtigen Weinheimer Unternehmer.
In verschiedenen Rechtsformen (Einzelunternehmer, oHG , GmbH) war das Hirsch-Unternehmen immer ein inhabergeführter Familienbetrieb. Die hohe Identifikation der Inhaber-Geschäftsführer mit ihrem Betrieb führte zusammen mit Organisationstalent sowie kaufmännischer Vorsicht und Konsequenz zu außergewöhnlichem Erfolg. Die Lederfabrik Hirsch entwickelte sich zur größten Roßlederfabrik Deutschlands. Sie bestand 70 Jahre bis zu ihrer „Arisierung“ 1938.
Lederfabrik, Verarbeitung von Roßhäuten
Lager und Produktion der Freudenberg-Gruppe
In Weinheim gab es das Gerberhandwerk wahrscheinlich schon seit dem 13.Jahrhundert. Weiches Wasser im Grundelbach, Eichenrinde aus dem nahen Odenwald und von der Bergstraße zur Gewinnung der Lohe und Rind- sowie Kalbfelle von den Metzgern im Umland waren die Grundlage.
Sigmund Hirsch (* 2.6.1845 Neukalen/Mecklenburg – ✝︎ 24.8.1908 Frankfurt/Main), aus einem jüdischen Elternhaus mit kaufmännischer Tradition stammend, ging in Malchin in eine Gerberlehre und anschließend auf Wanderschaft. So kam er mit vielen Erfahrungen auch nach Heidelberg, wo er in Ergänzung zu seinen üblicherweise christlichen Berufskollegen Kontakte zu jüdischen Einwohnern entwickeln konnte. Landschaft, Mentalität der Pfälzer und die religiös-liberale Landesverfassung von Baden gefielen ihm. Heirat und die Übernahme eines von fünf Betrieben in Weinheims enger Altstadt folgten 1868. Ungewöhnlich: Er spezialisierte sich auf die Gerbung von Roßleder. Pferde wurden seinerzeit selten geschlachtet, sondern gingen ein. Entsprechend war die Geruchsqualität besonders. Die Roßledergerberei war üblich im pferdereichen Norddeutschland. Im Süden wurde Sigmund Hirsch zum Pionier. Die gesamte Bearbeitung vom Rohfell bis zum Leder dauerte ca. sieben Monate, je nach angewandtem Verfahren.
Eine erste Dampfmaschine, eine eigene Lohmühle und die stetig verbesserte Ablauforganisation ermöglichten die Verarbeitung von wöchentlich 160 Roßhäuten durch ca. 30 Mitarbeiter. Taubenmistbrühe gehörte zu den verwendeten Mitteln. Zunehmende Mengen führten zum Strukturwandel im Handel. Anstatt des Geschäfts mit Fell- und Lederhändlern begann Hirsch den Ein- und Verkauf selbst zu organisieren. Gute Kunden fand er in den Schuhfabriken um Pirmasens.
1896 wurden amerikanische Maschinen eingesetzt, die Eisenbahn ins Weschnitztal ließ ehemalige Knechte zu Arbeitskräften in Weinheim werden. Die Leistung stieg auf 80 Roßhäute täglich. Der Einkauf erfolgte in Frankreich und Belgien. Der Platzbedarf war in der Altstadt nicht mehr zu befriedigen. Nach Geländekauf am Weinheimer Bahnhof der Main-Neckar-Bahn wurde dort 1900 eine Lagerhalle errichtet. Probleme gab es mit der "Verdrängungs- und Einkreisungspolitik" (Max Hirsch) der dort benachbarten Firma Freudenberg und der Bahnverwaltung. Trotzdem entstand schon 1902 eine Wasserwerkstatt. Nach Versuchen und einer sog. Kombinationsgerbung wurde die Chromgerbung eingeführt und 1905 der "Bariébau" errichtet. Dieser von Architekt Barié geplante Bau war der erste Eisenbetonbau in Weinheim. In kurzen Abständen wurden neue Dampfmaschinen, Brunnen oder Maschinen gebraucht. 1908 war das 40jährige festlich begangene Betriebsjubiläum, aber auch der Tod von Sigmund Hirsch. Seine Söhne Max (* 23.2.1871 Weinheim – ✝︎ 1.11.1950 Milwaukee) und Julius (* 18.4.1874 Weinheim – ✝︎ 1955 ?) setzten seine Arbeit in offensichtlich guter Kooperation fort.
Der Schwerpunkt der benachbarten Freudenberg-Lederfabrik lag immer bei der Rind- und besonders bei der Kalbfellverarbeitung. Dies war sicher günstig, als Anfang 1909 die Probleme mit Freudenberg und Bahnverwaltung durch ein freundschaftliches Übereinkommen beseitigt werden konnten. Im gleichen Jahr wurde das Büro von der immer noch genutzten alten Fabrik in der Altstadt in die neue Fabrik verlegt. Dazu wurde die Wasserwerkstatt umgebaut. Es entstand das markante Gebäude mit der Fassade nach Süden, das einen fünfeckigen Grundriß bekam. Die Leistung von 350 Arbeitern in zwei Fabriken betrug 1912: 400 Roßhäute täglich. Zur Kriegswirtschaft ab 1914 gehörten: Zeitweises Überangebot an Fellen von getöteten Frontpferden, Ersatzstoffe zur Bearbeitung und Arbeitskräftemangel. Frauen wurden angelernt und eingearbeitet. 1917/18 wurden 20 russische Kriegsgefangene eingesetzt. Zum 50jährigen Jubiläum wurde eine „Dienstprämie“ eingeführt, die nach fünf Jahren Betriebszugehörigkeit finanzielle Ansprüche begründete. Das Betriebsgelände wuchs durch Zukäufe auf 50.000 m². In der neuen Republik entstanden Gewerkschaften, Betriebsrat und Arbeitgeberverband. In einer Arbeitersiedlung wurden 1923 auf 3.600m² neun Häuser gebaut.
Die Schuhmode verlangte ab 1925 Farbleder, was neue Entwicklungen erforderte. Mit einem Neubau wurde die Lücke zwischen Bürobau/Wasserwerkstatt und Bariébau geschlossen. Dadurch sollte „die organische Zusammenschließung des Werkes nicht nur äußerlich durch die sehr wirkungsvolle, der Stadt und Eisenbahn zugekehrte Klinkerfassade erzielt werden“ (Max Hirsch). Diese den Blick vom Bahnhof prägende Struktur ist seither trotz weiterer Umbauten erhalten.
Mit gleichgebliebener Arbeiterzahl wuchs die Produktion bis 1926 auf 500 Roßhäute täglich. Der Bariébau erhielt 1927 noch ein weiteres fünftes Stockwerk. Erst nach einer Amerikareise von Max Hirsch wurde ab 1927 ein eigenes Labor für Probegerbungen außerhalb der Produktion eingerichtet. Die nächste dritte Generation trat mit neuen Ideen in die Firma ein: Arthur, Fritz und Kurt Hirsch.
Der „politische Verfall“ (Max Hirsch) führte zu zunehmenden antisemitischen Diffamierungen: Der Ausschluss aus Vereinen, erzwungene Funktionsverluste in Berufsverbänden, Verluste der Ehrenämter als Handelsrichter und Arbeitsrichter. Die neueingeführte, vorgeschriebene nationalsozialistische Betriebsordnung begünstigte Überwachung und Bespitzelung. Staatliche Kontingentkürzung beim Rohmaterial behinderten die Produktion. Zunehmend gefährlich wurde es für die Inhaber und ihre Familien nach dem Entzug der Bürgerrechte durch die Nürnberger Gesetze 1935. Trotz nationalsozialistischer Behinderungen gelang 1938 der Verkauf der Lederwerke Hirsch an die benachbarte Firma Freudenberg. Beim Pogrom am 9./10.November 1938 wurden Max, Julius, Arthur und Fritz Hirsch inhaftiert und über Mannheim, Karlsruhe in das KZ Dachau gebracht. Nach der Entlassung drei Wochen später wurde die Auswanderung vorbereitet. Anfang 1939 konnten sich alle Mitglieder der Familien Hirsch in versch. Länder retten. Von ihrem Vermögen konnten sie durch „Reichsfluchtsteuer“ u.ä. nur sehr geringe Teile mitnehmen.
„1945 wurde eine Rückübertragung vollzogen, Freudenberg betrieb aber das Unternehmen aufgrund eines Pachtvertrages weiter, bis 1964 die Hirschs ihre Anteile endgültig an Freudenberg verkauften.“ (Ausstellung 2009)
1977 schenkt die Freudenberg-Gruppe die Alte Fabrik der Stadt Weinheim. Sie wird 1982 zugunsten einer Neubebauung abgerissen. Zur Schuhindustrie in Pirmasens und Umgebung gibt es anschauliche Informationen im Deutschen Schuhmuseum in Hauenstein / Museum für Schuhproduktion und Industriegeschichte.
- vgl. Web-Links
- Sonderdruck aus dem Werke „Industrielle Welt“. Lederwerke Sigmund Hirsch G.M.B.H. Weinheim/Baden, Münchener Kunst-Verlag München, ohne Jahr, 1924 oder später
- Horsch, Daniel: Die jüdische Gemeinde in Weinheim a. d. Bergstraße, Weinheimer Geschichtsblatt Nr.26, Weinheim 1964 – Hirsch, Max: Lederwerke Sigmund Hirsch GmbH. 1868-1938
- Erinnerungen von Max Hirsch 1940 – Gebundene Fotokopie eines Manuskripts mit Vorwort von Albert Hirsch Juni 1991, 189 Seiten
- Schuster, Sibylla: Die Lederfabriken Freudenberg und Hirsch in der Zeit des Dritten Reiches. In: Die Stadt Weinheim zwischen 1933 und 1945. Weinheimer Geschichtsblatt 38, 2000, S. 313-34
- Weinheimer Nachrichten 22.Februar 2008, S.12: Er war Weinheims zweitgrößter Arbeitgeber
- Grau, Ute und Guttmann, Barbara: Weinheim – Geschichte einer Stadt, Edition Diesbach Weinheim 2008
- Unternehmensgruppe Freudenberg – Ausstellung „160 Jahre Freudenberg“ vom 20. Juni 2009 bis 4. Oktober 2009 im Alten Wasserturm am Bahnhof Weinheim