Freudenberg in Weinheim: Zwischen Dämmen / Kapellenäcker
Diese ehemalige „Haarwäscherei“ der Lederfabrik Freudenberg war schon bei ihrer Errichtung 1896 ein Vorzeigebauwerk. Die Ausführung mit den rot-gelben Kontrasten in der Fassade, die zahlreichen Fenster mit ihren Korb- und Rundbögen und die Höhe von drei Geschossen ohne Ziegeldach waren sicher ein „Hingucker“. Direkt am Weinheimer Bahnhof hatten viele Menschen Gelegenheit, die damalige moderne Architektur zu betrachten. Das Gebäude war zukunftsträchtig positioniert. Die Eisenbahn war das maßgebliche überörtliche Transportmittel für Menschen und Waren. Die Lage zwischen der neuen und alten Weschnitz im Gewann „Zwischen Dämmen“ garantierte Wasserver- und –entsorgung. Der „Haarwäscherei“ folgten noch viele andere an diesem Standort bis zur Gegenwart. Zur industriellen Entwicklung eines Unternehmens gehören neben Neubauten auch Umbauten, Abrisse und die Aufgabe ganzer Standorte. Die Freudenberg-Unternehmensgeschichte seit 1849 bietet dazu viele Beispiele. Hier und bei anderen Objektbeschreibungen können nur ausgewählte Aspekte aufgegriffen werden. In direkter Nachbarschaft befinden sich die Gebäude der ehem. Lederwerke Hirsch. Die verfolgten, jüdischen Eigentümer verkauften 1938 an die Freudenberg-Eigentümer (vgl. Ehem. Lederwerke Hirsch).
Lederfabrik
Teil der Firmengebäude der Freudenberg-Gruppe
1829 erhielt die Mannheimer Lederhandlung Heintze & Sammet die Erlaubnis des badischen Innenministeriums zur Errichtung einer Lederfabrik in Weinheim. Die in ihrer Zunft organisierten handwerklichen Gerbermeister hatten dagegen gekämpft. Ihr kleiner Erfolg war, dass die neuen Produzenten nicht in Weinheim verkaufen durften. Das erworbene zweistöckige Gerberhaus mit Stall und Scheune lag im Müllheimer Tal.
Carl Johann Freudenberg (1819-1898) kam nach dem Tod seines Vaters mit 14 Jahren aus Neuwied zu seinem Onkel Jean Baptist Sammet (1798-1870) in die Mannheimer Lederhandlung zur Lehre. Nach den üblichen harten Lehrjahren blieb er als Commis (Angestellter) in der Firma. Strebsam, sparsam und kulturell interessiert, fand er Zugang in die Mannheimer Gesellschaft. 1844 heiratete er Sophie Martenstein aus Worms, deren Vater als stiller Teilhaber in das Geschäft von Heintze & Sammet eintrat. Er wurde mehrfach zum Finanzier seines Schwiegersohnes.
Die Insolvenz der Hausbank von Heintze & Sammet führte auch zur Insolvenz der Lederhandlung am 1.1.1848. Aus deren Konkursmasse erwarben Heinrich Christian Heintze (1800-1862) und Carl Johann Freudenberg die Weinheimer Gerberei. Die neue Firma Heintze & Freudenberg errichtete schon 1849 ein neues Fabrikgebäude. Neue Kenntnisse brachten Eduard Michel und sein Vater ein. Sie hatten aus Frankreich das Rezept für das neue Produkt Lackleder. Der geschäftssinnige Vater Martenstein finanzierte nach einer Probeproduktion im Werk im Müllheimertal 1850 eine erste Lackierfabrik. Sie entstand auf erworbenem Gelände westlich des von Berckheimschen Schlosses. Einige Grundstücke an den Südhängen gehörten dazu, da sie zur Trocknung des Lackleders benötigt wurden. Der Lackleder-Umsatz stieg von 87.000 Gulden in 1850 auf 224.689 Gulden in 1851. Die Geschäfte gingen über nationale Grenzen hinaus. Leopold Heintze (1825-1874), der Sohn des Mitinhabers, lebte in London und sorgte dort für Absatz. Er wurde Beteiligter der Weinheimer Firma. Das Lackleder von Heintze & Freudenberg erhielt auf der ersten Weltausstellung der Geschichte 1851 in London eine Preismedaille. 1855 wurde die Lackierfabrik hangabwärts erweitert. Dies entsprach einer Vorgabe des Freiherrn von Berckheim, der um Aussicht und Wert seines Schlosses fürchtete und die geplante seitliche Erweiterung verhinderte. In der Folgezeit waren fünf Sechstel der Produktion Lackleder, der Rest Wichsleder. Ebenfalls 1855 wurde der Betrieb im Müllheimer Tal mit einer ersten Dampfmaschine und baulichen Erweiterungen modernisiert. Freudenberg zählte mit 300 Mitarbeitern zu den größten Gerbereien Deutschlands.
In den Folgejahren entstanden mehrere Konfliktbereiche. Die liberal eingestellten Heintzes waren Freimaurer, Carl Johann Freudenberg und viele Weinheimer tendierten eher konservativ. Heintzes führten die Gerberei, Freudenberg mit dem nahezu unabhängig waltenden „Lackiermeister“ Michel die Lackierfabrik. Die mangelhafte Umsetzung der Lackleder-Rezepte von handwerklichen Mengen auf industrielle Maßstäbe führte zu Qualitätsproblemen, die das Geschäft gefährdeten. Nach dem frühen Tod von Leopold Heintze 1874 zahlte Freudenberg nach Kreditaufnahme dessen Anteile aus. Carl Johann Freudenberg war Alleininhaber mit großen Schulden. Seine Söhne Friedrich Carl (1848-1942) und Hermann Ernst (1856-1923) wirkten zeitweise in der Firma mit. Besondere Anstrengung verlangte die schon 1869 als reine Freudenberg-Firma begonnene Gerberei in Schönau bei Heidelberg. Mit dem Ausscheiden von Heintze war aber der Vertrieb in England und seinen Kolonien beendet. Den sog. Gründerjahren nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 folgte eine Depression ab 1873. Hermann Ernst löste die technischen Probleme in der Lackierfabrik, Friedrich Carl kümmerte sich um die Minderung der hohen Kreditbelastung der Firma. Ein letzter Bereich wurde neu ausgerichtet. „Lackiermeister“ Michel wurde 1883 in den Ruhestand geschickt und neue, loyale Betriebsleiter eingestellt.
Das Wachstum der Bevölkerung, deren Verdichtung u.a. durch Zuwanderung in den Städten, Erfindungen, wissenschaftliche Forschung und technische Entwicklung führten um 1890 zu neuem wirtschaftlichem Aufschwung. Auch neue Ledersorten wurden bis zur Marktreife entwickelt.
Soziale Belange galt es für betroffene Arbeiter, deren Familien und das Unternehmen zu berücksichtigen. Eine Betriebskrankenkasse wurde mit verschiedenen Stiftungen der Freudenberg-Eigentümer ergänzt: Nothilfe-, Invaliden-, Witwen- und Waisen-Fonds, Ergänzungskassen für Krankheit und Arbeitslosigkeit. Das staatlich organisierte soziale Netz von heute war damals noch sehr lückenhaft und erfuhr so bei Freudenberg anerkannte Verbesserungen. Soziale Unruhen konnten damit eingegrenzt werden. Die Inhaberseite wurde neu gestaltet. Der Vater und seine beiden Söhne waren ab 1883 zu je einem Drittel beteiligt. Die Buchführung wurde von weiteren Verwandten verantwortet. Dazu kam gesellschaftliches Engagement von Carl Johann Freudenberg. Als Mitglied des Gemeinderats wirkte er auch bei der Gründung von Sparkasse und Volksbank mit. Als privaten Wohnsitz erwarb Hermann Ernst Freudenberg 1888 den später sog. Hermannshof .
Neubauten dienten der Erweiterung und Verbesserung in der Lackierfabrik. Dort wurden auch andere Ledersorten hergestellt. Im Gewann „Zwischen Dämmen“ zwischen den beiden Weschnitzarmen westlich des Bahnhofs entstand ab 1896 die „Haarwäsche“ als erster Bau. Dort wurden die von den Kalbfellen abgelösten Haare für die Filzindustrie und Hutherstellung aufgearbeitet. Viele weitere Bauten entstanden und entstehen bis in die Gegenwart auf dem Gelände am Bahnhof in den Gewannen „Zwischen Dämmen“ und „Kapellenäcker“. Beim Tod von Carl Johann Freudenberg 1898 hatte das Unternehmen mit fast 1.300 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von 12,4 Mio. Mark.
Hermann Ernst Freudenberg sorgte ab 1900 mit seinen Erfahrungen aus Amerika für Fortschritte. Die dort eingeführte Gerbung mit Chromsalz statt mit Lohrinde brauchte nur wenige Wochen statt viele Monate. Aus Weinheim kam das erste solche Produkt in Europa. Der Verkauf nach Fläche statt Gewicht wie bisher wurde zum neuen europäischen Industriestandard. Von 1877 bis 1912 stieg der Gewinn von 267.000 auf 1,9 Mio. Mark, das Betriebskapital von 2 auf 12 Mio. Mark. Freudenberg zählte zu den größten Gerbereien Europas. Mit dem Rückzug von Friedrich Carl 1904 von der aktiven Geschäftsführung führte Hermann Ernst das Unternehmen allein. Folgende Mitglieder der dritten Generation traten in den Folgejahren in die Firma ein.
Söhne von Hermann Ernst Freudenberg (1856-1923):
- Hermann jun. Freudenberg (1881-1920)
- Otto Freudenberg (1890-1940)
- Hans Freudenberg (1888-1966)
- Richard Freudenberg (1892-1975)
Sohn von Friedrich Carl Freudenberg (1848-1942):
- Walter Freudenberg (1879-1957)
Mit dem 1.Weltkrieg kamen Wegfall des Auslandsabsatzes, ca. 70% des gesamten, Finanzierungsprobleme, Arbeitskräftemangel durch den Kriegsdienst von Mitarbeitern, Frauenarbeit und Rohstoffmangel sowie die Einstellung der Bautätigkeit. In der Republik gab es ab 1920 Betriebsräte. Nach dem Tod von Hermann Ernst Freudenberg und der Währungsreform ging es langsam aufwärts. Neubauten im bahnhofsnahen Gelände einschl. einer neuen Lackierfabrik, Einsatz von qualifizierten Ingenieuren und Chemikern, Gründung und Erwerb von Gesellschaften im Ausland. 1924 verarbeiteten 3.300 Mitarbeiter 14.000 t Häute.
Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 brachte Marktverluste, hohe Zollschranken und folgenden Preisverfall. Der Wert des großen Lagers mit 1,5 Mio. Kalbfellen reduzierte sich auf fast ein Sechstel, 4 Mio. RM. Schließende Schuhfabriken und Kurzarbeit bei Freudenberg forderten Kreativität. Der Mitarbeiter Ing. Walther Simmer hatte bislang Gerbereimaschinen entwickelt. Ihm gelang 1932, zunächst aus Lederabfällen Lederdichtungen statt der bis dahin verwendeten Filzabdichtungen für den Automobilbau herzustellen. Noch beständiger als Leder war der ölbeständige Kunstgummi Buna, der dann auch für Schuhsohlen verwendet wurde. Die von Simmer entwickelten Radialwellen-Dichtungen heißen seitdem Simmerringe. 1938 wurden 8,4 Mio. Stück hergestellt. Im selben Jahr produzierte die Marena-Abteilung aus Hautabfällen 530.000 kg einer durch Düsen gepressten und gegerbten Masse als Rosshaarersatz, u.a. für Bürsten. Die Diversifikation bei Freudenberg, die Erschließung neuer Geschäftsfelder mit Lederersatzprodukten wiederholte sich bei den Kunststoffdärmen und nach dem 2.Weltkrieg bei den Vliesstoffen, die als Textil-Einlegestoffe, als Trägermaterial für Kunstleder und als Filter bedeutend wurden. Unter dem Markennamen Vileda gab und gibt es seit 1948 mehrere Haushaltsprodukte. Die Ergänzung und Umstellung des Produkt-Sortiments bedeutete für etliche handwerklich qualifizierte Gerber einen Wechsel auf Plätze mit einfacher auszuführenden Arbeiten.
Ab 1933 erschwerten die nationalsozialistischen Machthaber den Betrieb. Viele Geschäftspartner im Häute- und Lederhandel waren traditionell Juden. Mehrere Freudenberg-Familienmitglieder der dritten und vierten Generation hatten Frauen jüdischer Abstammung und waren ausgewandert. Richard Freudenberg war in der Weimarer Republik in der Demokratischen Partei und Mitglied im Gemeinderat. Der Boykott und die Vertreibung jüdischer Geschäftspartner, das Denunziantentum im Betrieb, die vorgeschriebene Stilllegung der Auslandsgesellschaften zerstörten den freien Markt. Ideologische Zwangswirtschaft ersetzte effiziente Produktionen und Entwicklungen.
Die am Bahnhof neben Freudenberg liegende jüdische Rossleder-Fabrik Hirsch geriet unter immer stärkeren Druck und wurde 1938 von Freudenberg übernommen. Auch der wichtige Freudenberg-Kunde Conrad Tack & Cie AG, Schuhfabrik bei Magdeburg hatte einen jüdischen Eigentümer, der schon 1933 an Freudenberg verkaufte, weil ihm nationalsozialistische Machenschaften keine andere Wahl mehr ließen.
Während des 2.Weltkriegs mussten bis zu 1.113 Kriegsgefangene und zivile Fremdarbeiter aus Frankreich, Italien, Belgien, Holland, Polen, Ukraine und Rußland in der Produktion arbeiten. Das waren 22% der gesamten Belegschaft. Gebäudeschäden waren in Weinheim nur sehr wenige zu verzeichnen. Die kampflose Übergabe von Weinheim an die Amerikaner verhinderte unsinnige Zerstörungen. Dabei hatte Richard Freudenberg maßgeblich mitgewirkt. Er wurde von der Militärregierung zum kommissarischen Bürgermeister ernannt.
Auf Druck des aus Weinheim stammenden, badischen Ministerpräsidenten Walter Köhler waren Walter, Hans und Richard Freudenberg 1943 in die NSDAP eingetreten. Von den nach Kriegsende vorgebrachten Vorwürfen ließ sich keiner aufrecht erhalten. Die 1946 drohende Demontage konnte abgewendet werden. Mit der Herstellung von Notprodukten wurden harte Jahre überbrückt. Erst mit der Errichtung einer neuen Wirtschaftsordnung und funktionierender Staatsorgane konnte ab 1948/1949 die Industrieproduktion neu organisiert werden.
Seit 1950 wurde das Unternehmen weltweit mit Produktions- und Vertriebseinheiten weiterentwickelt. Unternehmensstruktur und -strategie wurden und werden neuen Herausforderungen angepasst.
Erst 2002 wurde die Lederherstellung in Weinheim eingestellt. Im Jahr 2004 hatte das Familienunternehmen 300 Gesellschafter und 32.000 Mitarbeiter. Im Folgejahr verzeichnete Freudenberg einen Umsatz von 4,8 Mrd. Euro.
Die Gebäude im Müllheimer Tal, das sog. Werk Müll, wurden 1994 vollständig abgerissen und mit Wohnsiedlungen bebaut. Von den Gebäuden der Alten Lackierfabrik wurde von 1988 bis 2010 der überwiegende Teil zugunsten neuer Wohnbebauung entfernt. In wenigen alten Gebäuden befindet sich u.a. die Freudenberg-Stiftung und ein Privat-Gymnasium.
Die umfangreiche Bautätigkeit von Freudenberg wird möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher dargestellt.
- Carl Freudenberg G.m.b.H. Kalblederfabriken Weinheim in Baden 1899 (?)
- Pinnow, Dr. Hermann: 1849-1949 – 100 Jahre Carl Freudenberg, Weinheim 1949
- Ludwig, Johannes: Boykott-Enteignung-Mord- Die „Entjudung“ der deutschen Wirtschaft, Hamburg-München 1989
- Bräutigam, Petra: Mittelständische Unternehmen im Nationalsozialismus: wirtschaftliche Entwicklung und soziale Verhaltensweisen in der Schuh- und Lederindustrie Badens und Württembergs, München 1997
- Schuster , Sibylla und Freudenberg, Reinhart: 150 Jahre Freudenberg – Die Entwicklung eines Familienunternehmens von der Gerberei zur internationalen Firmengruppe, Weinheim 1999
- Schuster, Sibylla: Die Lederfabriken Freudenberg und Hirsch in der Zeit des Dritten Reiches. In: Die Stadt Weinheim zwischen 1933 und 1945. Weinheimer Geschichtsblatt 38, 2000, S. 313-34
- Grau, Ute und Guttmann, Barbara: Weinheim - Geschichte einer Stadt, Edition Diesbach Weinheim 2008
- Fa. Carl Freudenberg (Albert Gieseler)