Hausfassade als Markenzeichen
50 Teilnehmer wandeln mit dem Verein Rhein-Neckar-Industriekultur auf den Spuren der großen Marken aus Weinheims Industriegeschichte.
Weinheim. Den Weinheimer Hauptbahnhof hatte der Verein Rhein-Neckar-Industriekultur nicht ohne Grund als Treffpunkt für seine Führung durch Weinheims Industriegeschichte ausgesucht. Auf beiden Seiten des ab 1840 in Betrieb genommenen Gleises der Main-Neckar-Bahn schossen im 19. Jahrhundert namhafte Werke wie Pilze aus dem Boden, machten Weinheim zu einem Industriestandort mit vielen Arbeitsplätzen. Der Wandel von der Ackerbürgerstadt zur Industriestadt vollzog sich rasant. Die zweistündige Führung am Sonntagvormittag mit dem Titel „Die großen Marken“ machten 50 Teilnehmer mit.
Nicht nur geniale Slogans wie „Wer es kennt – nimmt Kukident“ machten Produkte aus Weinheim weithin bekannt. Zum Markenzeichen wurden auch Fassaden von Firmensitzen und Produktionsstätten, die noch heute bei genauem Betrachten auffallen. Die Rundbögen und verschiedenfarbigen Ziegel, die für die Fassade der 1896 errichteten Haarwäscherei von Freudenberg kennzeichnend sind, waren Ausdruck für die besondere Wertschätzung der Arbeit, hoben die Bedeutung der Produktion und der Arbeit, die hinter den Mauern geleistet wurde, besonders hervor. [...] Dabei stand sie im Schatten des 1908 von der Reichsbahn errichteten Wasserturms, den Freudenberg 1991 erwarb und 2007 komplett sanierte.
Auch die Fassade der 1896 gegründeten Gummifabrik Weisbrod & Seifert, in der heute eine Zweigstelle der Sparkasse Rhein Neckar Nord ihren Sitz hat, strahlt herrschaftlichen Glanz aus. Über dem Kopf von Jürgen Herrmann, der die Industrieführung leitete, prangte im Giebel neben dem Schriftzug des einstigen Unternehmens auch dessen Markenzeichen: Ein Junge, der mit einer Handpumpe einen Gummireifen aufpumpt, der das Kind wie ein Siegeskranz umgibt.
Auf engstem Raum hatten sich in Weinheim im 19. Jahrhundert Werke angesiedelt, die sowohl von den Rohstoffen der nahen Umgebung wie Wasser und Holz sowie von Arbeitskräften lebten, die auch aus dem Odenwald kamen und sich mitunter in Weinheim ansiedelten.
Große Ära der Badenia
Eines der alten eingeschweißten Bilder, die Herrmann in der Gruppe herumreichen ließ, zeigte die enorme Fläche, welche die Badenia einnahm, die 1834 von Wilhelm Platz gegründet worden war und ab 1884 auf dem Gelände nahe des Bahnhofs Lokomobile produzierte. Dabei verbrauchte sie jährlich 4500 Tonnen Eisen. Ihre Trauben- und Obstpressen, Schrotmühlen, Rübenschneider oder Dreschmaschinen wurden bis nach Java und Russland vertrieben. 1918 hatte das Unternehmen 1100 Mitarbeiter. Das Aufkommen von Traktoren in der Landwirtschaft beendete die Badenia-Ära.
Nichts erinnert heute mehr an die 1899 gegründete Stuhlfabrik Leinenkugel, deren Gründer Philipp Leinenkugel sich im Gleisdreieck von Main-Neckar- und Odenwaldbahn niedergelassen hatte und pro Tag 1000 Holzstühle produzieren ließ. Das Sortiment seines Unternehmens wies 200 verschiedene Stuhltypen aus.
Ein anderes Backsteingebäude neben dem Haus mit a2-Keller hat Weinheim der Bürgerbrauerei zu verdanken. Hier glänzten einst die Sudkessel. Bis 1920 wurde in der von 45 Weinheimer Bürgern gegründeten Genossenschaft Bier gebraut.
Manchmal verraten auch eine Fassade, Baustil und Ensemble von Häusern, dass eine besondere Geschichte dahintersteckt. So erging es Jürgen Herrmann mit einem Bau der Lederwerke von Sigmund Hirsch. Er hatte sich, im Gegensatz zur Firma Freudenberg, die Rind- und Kalbsleder verarbeitete, auf Rossleder spezialisiert. Sowohl die Nähe beider Leder verarbeitenden Firmen als auch die Herrschaft der Nationalsozialisten, in deren Zeit dem Weinheimer Juden Sigmund Hirsch und seiner Familie übel mitgespielt wurde, führten zur Übernahme der Hirsch Rosslederfabrik durch Freudenberg 1938/39. Sohn Max Hirsch verfasste 1940 in Lissabon die ausführliche Firmengeschichte. Vor einigen Jahren ließ Freudenberg die Firmenjahre zur Zeit der NS-Herrschaft aufarbeiten.
Abschluss in der „Kolonie“
Die Industrieführung zog weiter in Richtung Juxplatz. Zwischendurch zeugten alte Kanaldeckel mit den Aufschriften der Firmen Keller oder Badenia von der Haltbarkeit und Qualität von Eisenprodukten ehemaliger Weinheimer Werke.
Schließlich ging es durch die Alte Landstraße zur „Kolonie“, der letzten Station der Führung. Zwischen 1903 und 1905 hatte der Gemeinnützige Bauverein mit Unterstützung mehrerer Weinheimer Industrieller 24 Häuser mit 84 Wohnungen bauen lassen; ein Zeichen für die soziale Verantwortung eines weitsichtigen Unternehmertums, das nicht ausschließlich nach Wachstum und Profit giert, sondern auch die Lebensqualität seiner Mitarbeiter im Auge hat.
Wem die „Kolonie“ genau ihren Namen verdankt oder welcher Umstand zu dieser Bezeichnung führte, konnte Herrmann nicht sagen, doch gab er das Mikrofon für einen Augenblick an eine Teilnehmerin der Führung weiter. Renate Müller, geborene Kohl, hatte ihre Kindheit Nahe der Kolonie verbracht. „Viele Häuser hatten im Hof eine Scheune, es wurden Tiere gehalten, oder man hatte ein Stück Nutzgarten beim Haus. Es war ein Bereich der Nordstadt mit einer besonderen Atmosphäre“, berichtete sie.
Der Rundgang durch einen Teil von Weinheims Industriegeschichte endete bei den Lebensbedingungen der Arbeiter. Er war informativ und führte in eine Zeit, als Fuhrwerke und erste Autos noch bei der Viernheimer Straße die Schienen überquerten. Fuhrleute kehrten damals in die von Julius Friedrich, dem Gründer einer Gewehrschäftefabrik, erbaute Gaststätte „Zur Stadt Weinheim“ ein. So ändern sich die Zeiten. dra